|
Presse aktuell 2012
|
BZ vom 30.10.2012
Zwischen Ängstlichkeit und Zivilcourage
Beim Hebelschoppen in Hertingen stellt Franz Littmann den Dichter als moralische Instanz heraus
Von unserer Mitarbeiterin Dorothee Philipp
BAD BELLINGEN-HERTINGEN. Johann Peter Hebel als
moralische Instanz im Internet-Zeitalter: Der
jüngste Hebelschoppen in Hertingen eröffnete
dank des Festvortrags des Pforzheimer
Hebel-Kenners Franz Littmann neue Perspektiven
auf das oft voreilig in die Schublade der
Heimatdichtung abgelegte Werk des großen
Meisters. Eine stattliche Gemeinde hatte sich in
der Hertinger Kirche eingefunden, um dem alten
Brauch des Hebelschoppens, den der Kanderner
Schwarzwaldverein anno 1910 begründet hat, wie
immer am vierten Oktobersonntag ein weiteres
Kapitel hinzuzufügen. Karl Mannhardt konnte dazu
auch Gäste aus dem Elsass und der Schweiz
begrüßen, dazu Trachtengruppen aus Kandern und
Weil am Rhein.
Heimatdichter Werner Richter steuerte als Prolog
eine alemannisch gereimte Geschichte bei, in der
Hebel sich nach 200 Jahren vom Wiesental
aufmacht, um in Weil am Rhein seine "Jungfer
Gustave" zu besuchen. Er sieht ein Häusermeer,
eine "Elektro-Isebahn" , Menschen, die nur
Hochdeutsch können und in jeder Wohnstube ein "Gstell,
wo Bilder zeigt" . Schließlich "goht er wider
Huse zue, in Wiil, do isch mer’s z’ lut" .
Der promovierte Philologe Littmann, der schon
etliche Bücher zu Hebel verfasst hat und derzeit
mit Hansgeorg Schmid-Bergmann und Jan Knopf an
einer dreibändigen Gesamtausgabe arbeitet, ließ
seine Reise ins Internet-Zeitalter mit Hebels
"Merkwürdiger Gespenstergeschichte" beginnen, in
der ein in einem unheimlichen "Schlösslein"
einquartierter Gast eine Falschmünzerbande
beobachtet und den Gaunern schwört, sie nicht zu
verraten. Soll er den Schwur, den er in Gottes
Namen abgelegt hat, halten, oder dem weltlichen
Gesetz folgen, das Falschmünzerei als Straftat
ahndet? Schnell war Littman bei der
"Zwei-Reiche-Lehre", die unterscheidet zwischen
der Welt, wie sie ist, die "linker Hand", wo die
irdischen Gesetze gelten, und der - wie sie sein
sollte - zur rechten Hand, wo das Gesetz des
Herzens und eine höhere Form der Gerechtigkeit
regieren.
Allerhand Gedankenfutter wurde da auf
kurzweilige Art angerichtet, und es war ein
Leichtes, Littmann in der Erkenntnis zu folgen,
dass Hebels Kalendergeschichten nicht nur
erbauliche Unterhaltung bieten, sondern vor
allem Anleitungen geben, wie man in der Welt der
"linken Hand" zurechtkommt, wo man mit den
Wölfen heulen oder ihnen aus dem Weg gehen muss.
Indem er seinen Schwur halte und die
Falschmünzer nicht verrate, folge der Reisende
einer höheren Gerechtigkeit nach dem mündigen
Gebrauch des eigenen Verstandes.
Littmann zeigte auf, wie geschickt Hebel als
scheinbar naiver Erzähler in die Geschichten
seines Rheinischen Hausfreunds Kritik an der
Politik verpackt, die ebenfalls mit Lügen und
Falschmünzerei agiert. Indem der Reisende den
Mund hält, bestätigt er die Volksweisheit,
wonach Reden Silber, Schweigen aber Gold ist.
Auch in der heuten Zeit gehe es um die Balance
zwischen Ängstlichkeit und Zivilcourage,
zwischen irdischem und himmlischem Reich, die
als Polaritäten nicht aus der Welt zu schaffen
seien.
Littmanns Fazit holte zu einem großen Bogen aus,
in dem auch der Widerstand gegen die
Staatsgewalt nicht ausgespart wird: Man muss
daran arbeiten, eigene, verantwortungsvolle
Maßstäbe zu entwickeln, wenn es um die großen
Lebensfragen geht.
Nachdem mit Gebet und stimmungsvollen Liedern
der Chorgemeinschaft Bad Bellingen der
feierliche Teil in der Kirche zu Ende gegangen
war, traf man sich im Bürgersaal zur geselligen
Runde mit alemannischen Liedern und Gedichten,
die Hans-Werner Oettlin moderierte. Hier
würdigte Frank Dietsche den 1982 verstorbenen
kritischen Literaten Manfred Marquardt, und
Wilhelm Jung brillierte mit der auswendig
vorgetragenen Hebel-Geschichte "Kannitverstan" .
|
|
|
|