Presse aktuell 2012


Süddeutsche Zeitung vom 14.2.12

Die Eigentümer der Lebensläufe


Alexander Kluge, der intellektuelle Schattenspieler des deutschen Kinos und der deutschen Literatur, wird achtzig

Die Bewegung des Kinos hat ihn früh erfasst, in der Kindheit schon, die er in zwei Metropolen verbrachte, durch eine D-Zug-Fahrt verbunden, von Halberstadt, seiner Geburtsstadt, nach Berlin, wohin er von der Mutter oft zur Großmutter gebracht wurde. Hier, in Berlin, hat er dann in verschwenderischem Ausmaß das U-Bahn-Fahren genossen auf der Linie Pankow-Krumme Lanke mit Zwischenstation Alexanderplatz. Er spielte selber 'Zugführer', im letzten Waggon, 'und sah die Lichter hinter dem Zug verschwinden', und das war 'durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit im U-Bahn-Tunnel für mich die Vorstufe des Kinos'.

Das Kino als Transportmittel. Eine wirkliche, körperliche Bewegung ist von diesen ersten 'Kamera-Fahrten' her mit dem Kino verbunden gewesen, nicht nur die imaginäre auf der Leinwand, die verursacht und am Laufen gehalten wird durch einen Trägheitsdefekt des menschlichen Auges, das 24 einzelne Bilder in der Sekunde wie eine fortlaufende Bewegung sieht. Es spricht für Alexander Kluges Genauigkeit, dass er die schwarzen Momente zwischen den Bildern nicht einfach unter den Tisch fallen lässt - das Hirn, das hat er sich von Fachleuten bestätigen lassen, ist durchaus mit ihnen beschäftigt und dadurch ist die filmische Wahrnehmung so ganz anders als die der Wirklichkeit.

Alexander Kluge ist in unerhörter, unaufhörlicher Bewegung geblieben, seitdem er 1962 als einer der Unterzeichner des Oberhausener Manifests sein Engagement fürs deutsche Kino begann. Eine weiträumige Bewegung, aber anders als die der jungen Kollegen Werner Herzog und Wim Wenders, die ganze Kontinente ermessen haben und fremde Länder abgefahren sind - die Räume, die Kluge erforscht, sind die der Geschichte, der modernen deutschen primär, die ihren Ausgang nahm Ende des 18.Jahrhunderts, der politischen und sozialen Geschichte und der persönlichen, von der diese anderen ausgehen und in die sie wieder einfließen. Und er hat für Bewegung gesorgt zwischen den Instanzen, die diese Erforschung betreiben, den Archiven und Museen, den Universitäten und Theatern, dem Kino und dem Fernsehen und nun, seit einigen Jahren, dem Internet.

Seit den Achtzigern macht Alexander Kluge keine Filme mehr, seit 2000 bringt er verstärkt wieder Bücher heraus, angefangen mit der zweibändigen 'Chronik der Gefühle', und sein Buch 'Das Labyrinth der zärtlichen Kraft', 2009, ist mit einer begleitenden DVD erschienen. Es ist kein radikaler Wechsel in den Schreibarten damit verbunden, kein Etappenwechsel, das Kino ist weiterhin präsent in den literarischen Texten, und schon in den allerersten Filmen war der Filmschnitt geschärft durch entsprechende literarische Montagetechniken, durch die Kenntnis der Meister der kleinen Formen, Brecht und Bloch, dahinter Kleist und Hebel.

In Oberhausen - dessen fünfzigstes Jubiläum in zwei Wochen gefeiert wird - war rasches Handeln geboten, die Unterzeichner wollten nicht nur protestieren gegen das dumme alte Unterhaltungskino, sondern selber Filme machen, sich ein Förderungssystem zusammenbasteln, das die Projekte der Jungen unterstützte, und auch ein Publikum, das diese Filme im Kino sehen mochte. Rasch gehandelt hat Kluge dann später, als er sich seine Nischen in der neuen Privat-TV-Landschaft sicherte mit seinen dctp-Programmen, und dann, als er im Internet sein großes interaktives Gedächtnis aufbaute.

Als Traditionsbruch wollte Kluge Oberhausen, ungeachtet aller Unerbittlichkeit, aller Boshaftigkeiten, nicht sehen. Die Oberhausener gehörten alle zu den weißen Jahrgängen - jene glücklichen Deutschen, die zu jung für den großen Krieg und dann zu alt für die Bundeswehr waren. Ihre wichtigsten Erfahrungen machten sie zwischen 1945 und 1949, als das Überlebenwollen in Aufbruch überging. 'Diese Eindrücke enthalten fast das Einzige, was sie außer ihrem Temperament oder gewissen Freundschaften gemeinsam hatten: Rückwendungen zu den Traditionen der zwanziger Jahre, zu den ANFÄNGEN DER FILMGESCHICHTE.' ('Kein Abschied von gestern', nachzulesen, wie auch 'Meine beiden Metropolen', der Text über die Kindheit zwischen Halberstadt und Berlin, in dem neuen Band 'Personen und Reden' bei Wagenbach)

Von diesen frühen Hinwendungen zur eigenen, zur deutschen Filmfrühgeschichte war im Trubel der Sechziger um Manifest und Filmförderstreit wenig zu spüren. Erst später haben die jungen deutschen Filmemacher ein historisches Kino-Bewusstsein auch entwickelt, sich geoutet als Kinder von Murnau und Lubitsch. Nur bei Kluge war der Impuls doch früh gekommen, als er studierte, Jura, Geschichte und Kirchenmusik, in Marburg und Frankfurt. 1958 hatte Adorno ihn losgeschickt nach Berlin, wo Fritz Lang den 'Tiger von Eschnapur' und das 'Indische Grabmal' drehte. So ist Kluge einer der wenigen jungen deutschen Filmemacher, die den traditionellen Studiobetrieb von innen kennenlernten, und das ein paar Jahre früher als Jean-Luc Godard, den er heftig verehrt und der erst in 'Le mépris' an der Seite von Lang arbeiten durfte.

Der Intellektuelle als Schattenspieler, das ist die Rolle, die Kluge und Godard sich gern zuschreiben. Adorno und Lang, das ist eine bizarre Konstellation, aber die beiden haben Kluge die Kunst der Spekulation gelehrt, jenes anschauliche Denken, das - im Filmen wie im Schreiben - immer auch die eigene Perspektive mit im Blick hat, das prüft, was das Sehen den Dingen hinzufügen mag, und die Sichtbarkeit der Welt untersucht. Die Geschichte des Kinematographen begann, das war Kluge sehr früh bewusst geworden, lange vor der Erfindung der entsprechenden Apparate, weit vor Edison und Lumière. Im 19.Jahrhundert schon, in dem sich Kluge mit größtem Vergnügen tummelt, wurden die neuen Perzeptionsmodelle entwickelt, die das Kino dann bediente, und die es in Zusammenhang brachten mit den anderen revolutionären Techniken, der marxistischen Analyse und der Psychoanalyse und dem modernen Roman. In einem nie realisierten Projekt in den Zwanzigern des 20.Jahrhunderts sollte dieser Moment der Moderne sich selbst zur Darstellung bringen, Kluge hat die Vorarbeiten dafür vorgestellt in seiner DVD-Sammlung 'Nachrichten aus der ideologischen Antike'. Es ist Eisensteins Versuch, das 'Kapital' zu verfilmen mit den Methoden von Freud und Joyce, mit Bildern und Tönen, die mit einer unerhörten Dichte aufgeladen sind und dem Zuschauer unerhörte Aufmerksamkeit abverlangen - aber auch unglaublichen Erkenntnis-, also Lustgewinn bereiten.

Es ist ein Kraftakt, in dem die Künste und die Wissenschaften ganz selbstverständlich fusionieren, und für den Kluge ständig auf der Suche nach Mitarbeitern ist. Er wirkt gern stimulierend, motivierend, sokratisch auf andere, und ist sich auch nicht zu schade, als Zuträger zu fungieren - es ist ein Autorenbegriff in Minimalform, der bei ihm funktioniert, in dem es darum geht, Dinge und Personen zueinanderzubringen. Seine Zusammenarbeit mit Heiner Müller und mit Christoph Schlingensief war subversiv und legendär, und er holt sich gern junge Filmemacher, Tom Tykwer oder Romuald Karmakar, die heute seine Vorstellungen vom Kino realisieren, oder auch Helge Schneider, der für ihn historische Figuren durchspielen muss. Und in der Oper sieht er immer wieder ein unglaubliches Reservoir an Material. Irgendwie scheint jeder, der sich vor Kluges Kamera platziert, von der Magie der sanften, aber doch strengen Stimme bewegt zu sein. Prof. Eric Kandel zum Beispiel, der Hirnforscher. 'Er sitzt neugierig da wie ein Neunjähriger, aber auch gedächtnisstark. Er bezeichnet sich als Kinonarren. Das erklärt, warum er im Urlaub Filmfestivals besucht.'

Kluges Werke ähneln einem Mobile, 'die Verschiebung irgendeines seiner Teile korrigiert automatisch die Position aller anderen', hat in den Sechzigern zu 'Abschied von gestern' Enno Patalas geschrieben. Der Film hat Modellcharakter, noch immer, für alles, was Kluge danach machte. Es steckt schon das Prinzip der Vernetzung in diesen frühen Arbeiten, im 'Abschied von gestern' und in dem Buch 'Lebensläufe' - dass schon die Wirklichkeit im Grund auf Montage basiert, und dass man im Schreiben und im Filmen diese Weltmontage reproduziert.

Es ist kein Archiv, was Kluge, seitdem er Fernsehen und Internet macht, zusammenträgt, lieber ist ihm der Begriff des Gartens. Er möchte die Tradition der gärtnerischen Architekten, die Ende des 18.Jahrhunderts tätig waren, wieder reaktivieren im Internet. Das wird am Ende auch das Lesen verändern, es freier und ambulativer machen.

Was Kluge sammelt, wird einer permanenten Materialprüfung unterzogen, auf seine Beständigkeit und Brauchbarkeit getestet in diversen Kontexten. Die Dinge haben immer mehr als einen einzigen Sinn und Zweck. Wirkung ohne Ursache ist Effekt, ist einer der Sätze, die er besonders gern zitiert, von Richard Wagner. Er denkt in großen Zusammenhängen und Perioden, Jahrhunderten zumindest, am liebsten in Millionen Jahren und Hunderten Kilometern Entfernung. Ohne dabei den Blick aufs einzelne Detail zu verlieren. Dass das Individuum nur mehr taugt als abstrakteste Kategorie des Denkens, hat er im Krieg erfahren, im Denken der Aufklärung und in den Naturwissenschaften. Dennoch bleiben die Menschen weiter die Eigentümer ihrer Lebensläufe. Und der Kosmos ist selbst großes Kino, seit Millionen Jahren strahlt die Erde Licht-Bilder hinaus, in der die ganze Geschichte präsent ist. Es braucht nur noch eine Emulsionswand, die diese Strahlen auffängt und wieder in Bilder zurückverwandelt.

FRITZ GÖTTLER