Presse aktuell 2011


BZ vom 30.6.2011

Von Hebel zu Scheffel

Per Pedal zur Poesie: Der siebte literarische Radweg in Baden-Württemberg verbindet Lörrach über Brombach, Hausen und Dossenbach mit Bad Säckingen

Mark Twain liebte das Fahrradfahren so sehr, dass er eine Armee von mittelalterlichen Rittern vom Pferd auf den Drahtesel verfrachtete. In voller Rüstung! Solcherart Verrücktheiten finden natürlich nur in der Literatur statt. Aber umgekehrt kann man sehr real per Pedal zur Poesie kommen — seit Thomas Schmidt seine Leidenschaft für die Literatur mit der Lust an der Fortbewegung auf zwei mechanisch betriebenen Rädern verknüpft hat. Dafür sitzt er genau an der richtigen Stelle: Als Leiter der ans Literaturarchiv Marbach angekoppelten, aber unabhängigen Arbeitsstelle für die zahlreichen literarischen Gedenkstätten im schwäbisch-badischen Bundesland der Dichter und Denker hat sich der promovierte Germanist daran gemacht, den literarischen Radweg als Crossover von Lektüre und Leibesübung zu etablieren. Der siebte, von einem kundigen Flyer begleitet, wurde am vergangenen Wochenende unter heftiger Beteiligung der örtlichen politischen Prominenz offiziell zum ersten Mal befahren. Er führt von Lörrach nach Bad Säckingen: 52 Kilometer durch eine der schönsten Landschaften am Rande Deutschlands.

52 Kilometer, die sich lohnen im heiteren Zusammenspiel von Natur und Kultur, wenn man das so abgenutzt sagen darf. 52 Kilometer von der Wiese bis zum Rhein: von Johann Peter Hebel zu Joseph Victor von Scheffel, vom diesseitsfrommen Volksaufklärer zum Mitbegründer des literarischen Biedermeiers; 52 Kilometer zwischen dem Verfasser des Weltgedichts "Die Vergänglichkeit" und dem Autor des märchenhaften Versepos "Der Trompeter von Säckingen" : Und mitten auf dem Weg mit dem Schauplatz der Schlacht von Dossenbach fast beiläufig ein Stück badischer Revolutionsgeschichte. Was will man mehr im Sommer, wenn am Wegrand die Felder in hoher Ähre stehen und die Obstbäume schwer von Früchten sind; wenn der Wald von Vogelgesang widerhallt und der Rhein bei Säckingen in flirrender Hitze silberglänzend dahinträumt; wenn im Naturschutzgebiet der Wehramündung Enten und Schwäne einem fast vors Rad watscheln?

Von Lörrach über Schopfheim bis nach Hausen reicht der Dunstkreis Hebels. Das Museum am Burghof, wo der Weg beginnt, verfügt über die größte Sammlung von Hebel-Hinterlassenschaften. Die interaktive Ausstellung zum 250. Geburtstag des Kirchenrats und Dichters im Nebenberuf vom April 2010 tourt immer noch durchs Land, wie Museumsleiter Markus Moehring nicht ohne Genugtuung mitteilt. Im Herbst begleitet sie die Baden-Württembergischen Literaturtage in Oberkirch, bei denen unter anderem der singende Volksaufklärer Wolf Biermann auftritt.

42 unerschrockene Enthusiasten, unter ihnen der Hausener Bürgermeister Martin Bühler, satteln ihr Rad und strampeln an der Wiese (dem Fluss!) entlang nach Brombach — wo Hebels Mutter unter den Augen des 13-Jährigen auf einem Ochsenkarren starb und wo, wen sollte es wundern, im Angesicht der Burgruine Rötteln "Die Vergänglichkeit" spielt, dieses grandiose apokalyptische Gespräch zwischen Vater und Sohn.

Auch das liebreizende Städtchen Schopfheim, in dessen Mitte sich der Bildhauer Hans Lenk mit einem wenig liebreizenden Revolutionspanorama verewigt hat — Hecker, Emma Herwegh und Hund gegen die mit Erwin Teufels Einheitsgesicht anrückenden Regierungstruppen — , hält sich Hebels einstige Anwesenheit zugute. Hier ist, wie die Leiterin des Stadtmuseums Ulla Schmid in Erinnerung ruft, Hebel auf die Lateinschule gegangen und hat nach dem frühen Tod der Mutter beim Pfarrer gewohnt. Die Lateinschule, ein spitzgiebeliges Haus mit einem verwunschenen Garten in der Altstadt, ist heute in privater Hand. Das Museum besitzt eine einzige Vitrine mit Hebeliana.

Immerhin. Man darf sich weiter einstimmen auf den zentralen Gedenkort für Hebel in der Region: das Hebelhaus in Hausen, wo der Junge nach dem noch früheren Tod des Vaters — da war er ein Jahr alt — in der Winterjahreshälfte aufwuchs (in der anderen in Basel). Hausens Bürgermeister hat die Zeichen der Zeit im Jubiläumsjahr rechtzeitig erkannt und so viel Geld gesammelt, dass aus dem kleinen, schiefen, mit Memorabilia zweifelhafter Herkunft vollgestopften Haus unter der kundigen Hand von Thomas Schmidt und seinem Gestaltungsteam ein literarisches Museum der Sonderklasse wurde. 5000 Besucher seit der Eröffnung im Mai 2010 (fast eine Verzehnfachung früherer Zahlen) zeigen, dass sich die Anstrengung gelohnt hat. Und durch den Radweg, da sind sich die von Martin Bühler angeführten Hausener Hebelfreunde einig, werden es noch mehr werden.

Hinter Hausen, an duftenden Feldern vorbei, zieht sich der Weg gen Dossenbach in die Höhe, um vor dem Dorf mit seinen 480 Einwohnern wieder abzufallen. Per Pedal kommt man hier nicht zur Poesie, sondern zu einem Scharmützel, das wohl keiner so anschaulich schildern kann wie Kurt Vollmer, nach 19 Jahren als Ortsvorsteher nun der am prächtigen Heckerhut erkennbare Spezialist für die badische Revolution. In Dossenbach trafen die von Herwegh mehr schlecht als recht angeführten Aufrührer zufällig auf die Soldaten des württembergischen Landesherrn, die sich von den Kampfsensen der Aufständischen nur vorübergehend beeindrucken ließen. Von den dreißig Toten der Schlacht liegen zehn in Dossenbach begraben.

Herwegh flüchtete über den Rhein — nicht in Säckingen, über die Holzbrücke, wo es aber andere versuchten. Der Trompeter, der die Stadt neben dem heiligen Fridolin berühmt gemacht hat, steht in Bronze vor dem Schloss — und lebt auf Klaus Ringwalds Stele, die seine Geschichte erzählt. Dass die schöne Rheinstadt immer noch keine würdige Scheffelgedenkstätte hat, ist dem Stadtführer Karl Braun schon peinlich. Der dem Erfinder des historischen Romans im Schloss gewidmete Raum ist nicht der Rede wert. Zwar hat Scheffel als Rechtsreferendar nur ein Jahr in Säckingen verbracht — die literarischen Folgen allerdings waren erheblich. Thomas Schmidt würde, wie man ihn kennt, nichts lieber tun, als sofort in die Scheffelmuseumsplanung einzusteigen. Und Geld — das hat er auch: wenn die Stadt den ersten Schritt tut. Den großartigen literarischen Radweg würde ein solcher Ort — welche Frage — naturgemäß weiter aufwerten.


Bettina Schulte