|
Presse aktuell 2011
|
BZ vom 12.05.2011
Tugend oder die "Vernunft des Herzens"
Vortrag über Hebels Kalendergeschichten
LÖRRACH. Eigentlich sollte "Die Vernunft des
Herzens — Hebels Kalendergeschichten" nur der
Titel eines Vortrags sein, den Eva Thauerer aus
Passau zum "Schatzkästlein" des Hebelbundes (wir
berichteten) im Burghof in Lörrach hielt. Doch
Hebelbund-Präsident Hans-Jürgen Schmidt
platzierte in seinen Grußworten die Vernunft des
Herzens mitten im Publikum des nur spärlich
besetzten Saals.
Doch was ist die Vernunft des Herzens? Zunächst
offenbar ein Widerspruch in sich. Schließlich
gilt das Herz in unserer Gesellschaft als Sitz
des Gefühls und wird mit Spontaneität und
Leidenschaft in Verbindung gebracht. Der
Vernunft hingegen spricht man eher die logischen
Eigenschaften des Verstandes zu. Schmidt
beleuchtet die Vernunft des Herzens von vielen
Seiten und versucht einen Brückenschlag in die
Gegenwart, in dem er die Frage "Von welcher
Vernunft lasse ich mich leiten?" in den Raum
stellt. Laut Schmidt ist die Vernunft des
Herzens eine Lebensphilosophie, die die
Geschichten Johann Peter Hebels speist.
Eingeladen hatte der Hebelbund zum Vortrag über
die Kalendergeschichten, aufgrund eines kleinen
Jubiläums, wie Schmidt beschrieb: Vor 200 Jahren
hatte Johann Peter Hebel seine schönsten
Kalendergeschichten als Buch unter dem Titel
"Schatzkästlein" veröffentlicht.
Weniger vordergründig näherte sich die
Referentin Eva Thauerer der Vernunft des
Herzens. Tief taucht die Referentin in Hebels
Kalendergeschichten ein, wirbelt diese
durcheinander und setzt sie wie kleine
Mosaiksteinchen scheinbar zusammenhanglos wieder
zusammen. Was beim ersten Blick nichts
miteinander zu tun hat, ist auf den zweiten eng
verwoben. Fast möchte man sich mit der Hand an
die Stirn schlagen, weil man nicht von selbst
darauf gekommen ist. Ein Beispiel dafür sind die
Geschichten "Kannitverstan" und "Der geheilte
Patient" , die zunächst völlig gegensätzlich
erscheinen. Bei näherer Betrachtung wird
deutlich, dass beide Protagonisten, der arme
Handwerksbursche und der übergewichtige reiche
Amsterdamer, ein Erlebnis teilen: Sie befreien
sich von ihren Lasten. Der eine von der Scham
über seine Armut, der andere von seiner
Einbildung. Allen Kalendergeschichten gemeinsam
sei laut Thauerer, dass Hebel den Reichtum an
Wissen und Geist anstatt an Gütern als
erstrebenswert herausstelle. Auch gehe Hebel in
seinen Geschichten, die sich teils an die Bibel
anlehnten, der Frage nach dem rechten Verhalten
nach, ohne Vorbilder zu präsentieren. Ist das
die Vernunft des Herzens oder ist sie am Ende
nur ein literarisches Handwerkszeug, um mit den
Kalendergeschichten Menschen aller Bildungs- und
Gesellschaftsschichten zu erreichen? "Der
geheilte Patient" kommt gemäß der Betrachtung
durch Eva Thauerer der Vernunft des Herzens wohl
am nächsten. Schließlich lernt der Patient
selbst, auf seiner 18-tägigen Wanderung zum
Arzt, was gut für ihn ist. Heute würde man wohl
sagen: Er findet zu sich selbst.
Maja Tolsdorf
|
|
|
|