Presse aktuell 2011


Die Süddeutsche vom 5.5.11

Der alte König

Von Johann Hinrich Claussen

Ist das nicht erbaulich? Helmut Schmidt widmet sich in seinem aktuellen Bestseller der Religion und wird zum Seelentröster einer Nation - ohne dass Weihrauchgeruch aufkommt. Dazu passt sein unheiligmäßiges Rauchen.

Bücher trösten immer noch. Es ist ein Missverständnis zu glauben, Bücher seien entweder - als Unterhaltungsliteratur - zur Entspannung oder - als Fachbuch und Niveauliteratur - zur Schärfung des Verstandes und Geschmacks da. Sehr viele Bücher werden gekauft und gelesen, weil sie Trost spenden. Das beweisen die Veröffentlichungen von Margot Käßmann, die regelmäßig Spitzenplätze der Spiegel-Bestsellerliste besetzen, oder von Anselm Grün, dessen Verkaufszahlen sich schon jenseits aller Listen bewegen.

"Wir brauchen eine Lehre der Toleranz gegenüber anderen": Wenn Altkanzler Helmut Schmidt spricht und schreibt, empfinden das viele als tröstend. (© REUTERS)

Natürlich hat Erbauungsliteratur einen schlechten Ruf. Man verbindet mit ihr Pastorenkitsch und eine schleimig-klerikale Methode, für die Seele dadurch zu sorgen, dass man das kritische Denken abstellt.

Dabei vergisst man, dass Erbauung in der deutschen Literatur eine ehrwürdige Tradition besitzt. Man denke nur an die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel. Doch auch heute noch gibt es Bücher, die Trost spenden und ethisch orientieren, ohne dabei an literarischem Niveau einzubüßen: zum Beispiel David Gilmours Roman über die Adoleszenzwirren seines Sohnes ("Unser allerbestes Jahr") oder Arno Geigers Erzählung über seinen demenzkranken Vater ("Der alte König in seinem Exil"). Wer sie liest, fühlt sich - als pubertätsgeschüttelter Vater oder als in der Pflege überforderter Sohn - weniger allein und neu bestärkt.

Lange schon konnte man die Vermutung haben, dass auch die Bücher von Helmut Schmidt in diese Kategorie fallen. Wie sonst ließe sich ihr Verkaufserfolg erklären? Von seiner Bilanz "Außer Dienst" wurden im Hardcover mehr als 600.000 Exemplare und von den Zigarettengesprächen mit Giovanni di Lorenzo immerhin 420.000 Stück verkauft. "Geschnitten Brot" ist gar kein Ausdruck.

Eine einfache Erklärung ist, dass es sich bei den Büchern des Altbundeskanzlers eben um gut gemachte Sachbücher handelt, die einem breiten Publikum komplizierte politische und ökonomische Zusammenhänge allgemeinverständlich erläutern, wobei ein besonderer Reiz darin besteht, dass der Autor an vielen historischen Ereignissen selbst beteiligt war und eine große Anzahl ihrer Protagonisten persönlich kannte. Ein zweiter Grund besteht darin, dass Schmidt-Bücher ideale Geschenke sind, denn sie sind hochwertig, interessant, aber nicht kontrovers.

Doch reicht das, um zu erklären, warum jedes Schmidt-Buch ein Bestseller wird? Oder hat man es hier nicht mit einem Ritual zu tun, das religionsphänomenologisch zu deuten wäre? Eine solche Betrachtung dürfte Helmut Schmidt selbst fremd sein, aber es geht ja nicht um seine Person, sondern um das öffentliche Bild, das sich eine treue Lesergemeinde von ihm macht.

Aktuellen Anlass bietet die neueste Veröffentlichung von Schmidt, die sich direkt der Religion widmet. "Die Religion in der Verantwortung" lautet der Titel einer Sammlung von Reden und Aufsätzen, die (muss man das noch sagen?) sofort die Spitze der Spiegel-Bestsellerliste erklommen hat (Helmut Schmidt: Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung. Propyläen Verlag, Berlin 2011. 256 Seiten, 19,99 Euro).

Nicht wenige von Schmidts Lesern dürften seine Bücher zumindest religionsähnlich rezipieren. Denn diese Bücher halten einen eigentümlichen Trost bereit. Die globalisierte Moderne ist von ungeheuerlicher Komplexität.

Da ist es gut, wenn zumindest einer die Wirren der Welt durchschaut, historisch herleitet und strukturell analysiert. Die Leute laufen eben nicht nur Heilspropheten hinterher, die "Friede, Friede" rufen, wo doch kein Friede ist, sondern sie sind auch bereit, einem skeptischen Weisen zuzuhören, wenn dieser ihnen den Eindruck vermittelt, es gäbe noch so etwas wie Überblick.

Neues Buch von Helmut Schmidt Respekt und Rührung

Das schenkt seinen Lesern Vergewisserung und einen wenn auch bitteren Trost. Doch sie wollen nicht nur getröstet, sondern auch ethisch orientiert werden. Dem dient, dass Schmidt regelmäßig an selbstverständliche, aber gern vergessene Bürgerpflichten erinnert und auch für diejenigen Tugenden - Glaube, Liebe, Hoffnung - plädiert, ohne die ein Gemeinwesen nicht bestehen kann, die es aber nicht selbst zu begründen vermag.

Zwar kommt seine Verkündigung des Prinzips "Verantwortung" manchmal etwas überraschungsfrei daher, doch begeht er nie den Fehler, in moralistischer Manier Eindeutigkeiten zu beschwören. Vielmehr ist es sein Anliegen, Verständnis für ethische Konflikte und deren Bewältigung in Kompromissen zu wecken. Indem er die Spannungen zwischen Person und Amt, individueller Gesinnung und politischer Verantwortung bedenkt, schreibt er eine lange protestantische Tradition fort, nämlich Luthers Eintreten für ein evangelisches Berufsethos und seinen Kampf gegen die Unbedingtheitsmoral der Wiedertäufer.

Doch speist sich die erbauliche Wirkung seiner Bücher nicht nur aus ihren Inhalten, sondern ebenso sehr aus dem öffentlichen Bild des Autors als alter Mann. Es gibt in der auf Jugendlichkeit getrimmten Konsumgesellschaft offenkundig eine Sehnsucht nach überzeugenden Bildern der Grenzen des Lebens. In dieser Perspektive wird auch Schmidt wahrgenommen, mit einem Blick, in dem sich Respekt, Rührung und Mitleid mischen. Ähnlich war es beim vorigen Papst. Doch anders als dieser stellt Schmidt die Lasten seines Alters nicht aus und stilisiert sie nicht zu einem erlösenden Martyrium.

Große Anteilnahme empfing er aber, als seine Frau Loki starb. So ambivalent es oft ist, wenn öffentlich um prominente Personen getrauert wird, gab es hier doch bei vielen ehrliche Bewegtheit - auch deshalb, weil das Ehepaar Schmidt ein seltenes Bild davon abgab, dass es sich lohnt, wenn Mann und Frau ein ganzes Leben miteinander teilen. Auch dies wirkte ebenso tröstlich wie orientierend. Es sind solche Hintergrunderfahrungen, vor denen Schmidts Sachbücher als Erbauungstexte gelesen werden.

Das Recht einer kirchendistanzierten Christlichkeit

Konträr hierzu steht, dass Schmidt gerade nicht als Heilsfigur auftritt. Bei öffentlichen Auftritten pflegt er die ihm entgegengebrachte Adoration schnell mit trockenen Sprüchen zu durchkreuzen. Das gibt diesen Anlässen etwas Heiteres und verhindert, dass Weihrauchgeruch aufkommt. Dazu passt sein unheiligmäßiges Rauchen. Wenn er also eine religionsähnliche Funktion wahrnimmt, dann in einer protestantisch ausgenüchterten Form.

Denn protestantisch ist er, wenngleich auf eigene Weise. Schmidts Bücher veranschaulichen wohl am besten, was der Theologe Trutz Rendtorff vor vielen Jahren als "Christentum außerhalb der Kirche" bezeichnet hat. Es gibt im Protestantismus eine legitime Form von Christlichkeit, die zur verfassten Kirche Distanz hält. Sie lebt aus einem bewussten Berufsethos, genießt Glaubensfrüchte nur, wenn sie in der Gestalt klassischer Kirchenmusik dargereicht werden, und steht allem Dogmatischen, Klerikalen und Rituellen kritisch gegenüber.

So wie Schmidt dieses Christentum außerhalb der Kirche (bei gleichzeitiger Kirchenmitgliedschaft) darstellt, dürften sich viele seiner Leser in ihm wiedererkennen.

Denn genau dies ist das hierzulande religiös Normale. Indem Schmidt das Recht einer kirchendistanzierten Christlichkeit verteidigt, befähigt er seine Leser, ihre gebrochene, aber um Mündigkeit bemühte Frömmigkeit gegenüber tatsächlichen oder eingebildeten kirchlichen Reglementierungen zu behaupten. Mit Kirchenfeindlichkeit sollte man dies nicht verwechseln. Wenn Schmidt ein weltpolitisches Plädoyer für die Zivilisierung der Religionen durch Toleranz und Dialog hält, dann ist das genau die Linie, welche die evangelische Kirche seit vielen Jahren vertritt.

Auch für die deutsche Gesellschaft hält Schmidt die Kirchen immer noch für unverzichtbar: "Was wir heute von der Volkskirche erwarten, das ist Seelsorge und Trost; auch Barmherzigkeit gegenüber dem Schwachen und dem Armen, Solidarität mit unserem kranken Nachbarn. Wir brauchen eine Lehre der Toleranz gegenüber anderen und die Lehre vom Respekt gegenüber der persönlichen Würde jeder anderen und jedes anderen." Dass er es nicht dabei belässt, dies als Forderung an die Kirchen zu richten, sondern als Erbauungsschriftsteller höherer Ordnung selbst einen Beitrag hierzu leistet, weist ihn bei aller Distanz dann doch als engagierten Christen aus.