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Presse aktuell 2010
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BZ vom 21.09.2010
Kalendergeschichten heutzutage
Ein Buch, eine
Ausstellung und vier Lesungen: Ein
ungewöhnliches Projekt zum Hebel-Jahr feiert
seine Premiere in Freiburg
Man sollte meinen, zum mit Ausstellungen und
Veranstaltungen reich instrumentierten
Hebel-Jahr könne nun nichts Originelles mehr
kommen Aber mit dem Meinen liegt man eben häufig
falsch. Eines der lebendigsten Projekte zum 250.
Geburtstag des größten alemannischen Dichters
erreicht erst jetzt die Öffentlichkeit. Aber
auch das stimmt allenfalls nur halb, denn im SWR
sind die Texte, die nun in einem Buch
zusammengefasst sind und in vier über das Land
verteilten Lesungen vorgestellt werden, im
Frühjahr bereits gesendet worden.
Zeitgenössische Autoren und Autorinnen aus dem
deutschen Südwesten, aus Österreich und der
Schweiz setzen sich mit einem Hebel-Text ihrer
Wahl auseinander: Das Literaturbüro Freiburg hat
diese Idee gemeinsam mit dem Freiburger
SWR-Landesstudio auf den Weg gebracht und
umgesetzt. Das Ergebnis ist verblüffend.
Denn es zeigt sich in dieser Sammlung von Kurz-
und Kürzestgeschichten, Prosagedichten und sogar
Lyrik auf den ersten Blick, wie umstandslos
Hebels Kalendergeschichten Anstoß für aktuelle
dichterische Parallelaktionen bieten können. Wie
modern, mit anderen Worten, diese Texte sind,
stellen die Antworten, Gegenentwürfe,
Fortspinnereien der 24 Autoren und Autorinnen
eindrucksvoll unter Beweis. Die Herangehensweise
an das Vorbild gestaltet sich dabei sehr
unterschiedlich. Es finden sich direkte
Antworten auf Hebels Vorlage — zum Beispiel bei
dem Hebel ohnehin sehr nahen Schweizer
Schriftsteller und Kabarettisten Franz Hohler.
Hebels Auflistung "Was in Wien draufgeht" : was
die große Stadt im Jahr 1807 an Lebens- und
Heizungsmitteln verbraucht — 66 795 Ochsen, 408
000 Zentner Mehl, 674 000 Maß Bier — kontert
Hohler mit dem Text "Was in ein Land reingeht" .
Da es sich bei dem Land um die Schweiz handelt,
heißt das in erster Linie: Geld aus dem Ausland
— geschätzte 3000 bis 4000 Milliarden Franken.
Aus verschiedenen Rechnungen, die Hohler mit
demselben nüchternen Gestus durchführt wie
Hebel, als der volksnahe Aufklärer des 18.
Jahrhunderts sein echter Bruder im Geiste, kommt
Hohler auf die sagenhafte Summe eines Schweizer
Pro-Kopf-Vermögens von 814 500 Franken; dafür
sind zu viele Menschen auch in Schweiz arm.
Ganz anders geht der in Baden-Baden lebende
Carsten Otte mit Hebels wunderbarem Text "Die
Erde und die Sonne" , einem großartigen Beispiel
früher populärwissenschaftlicher Erklärung von
physikalischen Phänomenen wie der Erdanziehung,
um. Otte entwickelt die recht bedrohliche
Fantasie eines Urlaubs im "Paradieshotel" , dem
die Sonne fehlt — und zwar grundsätzlich. Die
Auflösung des Rätsels dieser Finsternis gerät
allerdings ziemlich vorhersehbar. Mit einer sehr
realen Erfahrung wartet dagegen die Straßburger
Autorin Barbara Honigmann auf. Während des
verheerenden Orkans "Lothar" wurde sie mit ihrem
Sohn im Auto von einem stürzenden Baum getroffen
und blieb wie durch ein Wunder unverletzt.
Inspiration für diesen Text war Hebels
Unfallmeldung über eine Lawine, die am 11.
Februar 1807 am Arlberg sechzehn Menschen unter
sich begrub.
Schön, wie die Freiburger Autorin Annette Pehnt
den "Barbierjungen von Segringen" , der einem
rabiaten Kunden eine sehr handfeste Lehre mit
auf den Weg gibt, in ihrer Geschichte "Man muss
Gott nicht versuchen" in eine erotische
Begegnung hinüberspielen lässt. Der gesunde
Pragmatismus, der die Geschichte so erfrischend
macht, ist auch der Hebel für Pehnts Text. Wenn
ein Treffen mit Gott auf Einseitigkeit beruht,
wäre es doch zu bevorzugen, sich "wieder einmal
bei Helmut zu melden" . Mit der durchaus auch
vorhandenen Grausamkeit der Hebel’schen
Kalendergeschichten macht der Ihringer
Schriftsteller Hugo Rendler bitter ernst. Seine
karge Erzähung "Kippen" könnte eine von
Ferdinand von Schirachs Fallgeschichten sein —
und ist fast von derselben schrecklichen
Konsequenz wie Hebels "Das letzte Wort" , das
den Freiburger Schriftsteller Karl-Heinz Ott zur
Chronik eines verhinderten Selbstmords animiert
hat.
Erstaunlich, dass Hebel selbst für die
Verwandlung ins Gedicht taugt. Nico Bleutge und
Ulf Stolterfoht demonstrieren das auf sehr
unterschiedliche Weise: Der Tübinger Lyriker mit
so etwas wie Tiergedichten, der Stuttgarter Poet
mit einem Umweg über Oskar Pastior. Die
Ausstellung zu "Hebels Kalendergeschichten in
Comic und Illustrationen" begleitet optisch die
erste der Lesungen in Freiburg, Karlsruhe,
Stuttgart und Basel. Hebel lebt. Und wie.
Bettina Schulte
— Ausstellung:
Vernissage heute um 19.30 Uhr in der Galerie im
Alten Wiehrebahnhof Freiburg, Urachstraße 40.
— Lesung von Angelika Overath, Karl-Heinz Ott,
Sasa Stanisic und Walle Sayer am 22. September
um 20 Uhr.
— Buch: Unverhofftes Wiedersehen. Eine Hommage
an Johann Peter Hebel. Herausgegeben von Jutta
Schloon, Stefanie Stegmann, Szilvia Szarka und
Werner Witt. Verlag Klöpfer & Meyer, Stuttgart
2010. 156 Seiten, 17,90 Euro.
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