Presse aktuell 2010


BZ vom 30.08.2010

Der Sprachspieler 

Der Basler Autor Urs Allemann las Hebel im Riehener Kellertheater auf seine ganz eigene Art

"Warum noch einmal Hebel?" Der Basler Autor und Performer Urs Allemann stellt immer die richtigen Fragen, auch wenn er diese oft als Aussagen oder Nonsens tarnt. Und auch hier trifft er den Kern der Sache, denn es ist ja im Jubiläumsjahr zum 250. Geburtstag von Johann Peter Hebel schon viel gelesen, geforscht und gesagt worden über den Dichter. Und alle wollen sie eins dabei: Das Neue, Unentdeckte finden bei der Lektüre des Jubilars. Der Dichter und Germanist Allemann nun hat es vielleicht gefunden, auch wenn er der Notwendigkeit dieser Suche möglicherweise misstraut. Ihr Ergebnis jedenfalls stellte er in der Kaleidoskop-Reihe der Arena Literaturinitiative in Riehen vor.

Hebel als Mundartdichter, Volksschriftsteller und Didakt, der mit seinen Texten die Idylle seiner Zeit beschwört und anschreibt gegen das Pisa des 19. Jahrhunderts. Dies sei der Dichter einerseits wohl gewesen, sagt Allemann, doch habe Hebel auch noch eine ganz andere Seite gehabt, nämlich die des leidenschaftlichen Spielers, des Sprachspielers, aber auch des erzählerischen Spielers, der seine Protagonisten durch die Settings seiner Geschichten und Anekdoten führt wie die Figuren auf einem Schachbrett. Auch habe Hebel eine Affinität zu Gewalt gehabt, sagt Allemann, sie zum Thema in seinen Texten gemacht und zwar nicht nur, um sie moralisch abzuurteilen, sondern auch weil er als Schriftsteller Freude an ihrer Schilderung gehabt habe. Spiel und Gewalt also als die beiden Pole und vermeintlichen Antipoden der hebelschen Literatur, die, so Allemann, in ihrem Innersten wohl doch zusammengehören als die zwei Elemente einer Methode, die das Gewalttätige oder wenigstens die gewalttätigen Fantasien — im Spiel nämlich — handhabbar machen.

Manchem verklärenden Hebel-Leser und -Freund könnte die These Allemanns zumindest im Blick auf den Pol der — heute würde man sagen — Gewaltverherrlichung missfallen. Doch Allemann kann mit Analyse, Vortrag und vor allem der Erfahrung des eigenen Schriftstellerseins überzeugen (auch wenn er als Autor das Überzeugen als didaktisches Mittel ablehnt): Ob in den Kalendergeschichten "Merkwürdige Schicksale eines jungen Engländers" und "Die Ohrfeige" oder vor allem in den Mundartgedichten wie dem "Karfunkel" und in "Die Vergänglichkeit" — überall ist sie vorhanden, die Gewalt, ihre Schilderung wird wie beim im Wiesental verorteten Weltuntergangsszenario der "Vergänglichkeit" manchmal regelrecht zelebriert.

Doch ist sie nie Selbstzweck, sondern immer ein Weg zur Katharsis des Lesers, und sicher auch des Autors Hebel — der, so Allemann, wie ein "narrativer Glücksspielautomat" mit Ironie oder der Setzung absurder Zufälle immer wieder aufatmen kann, wenn er der Gewalt im Spiel mit dem inszenierten Schicksal entkommen und die Geschichte zu einem guten Ende führen kann.

Die von Allemann gelesenen Texte Hebels dienten aber nicht nur als Beleg für dessen These, sondern sie brachten die Besucher des voll besetzten Riehener Kellertheaters vor allem in den Hochgenuss eines alemannischen Vortrags, der Hebel auf Hochdeutsch und "Privat-Alemannisch" flüsterte und brüllte und aus allen Poren schwitzte, als habe er den alten Mann ganz und gar verinnerlicht — wie eben nur ein ironischer Sprachverdreher, Mundartexperimenteur und Bühnenmensch wie Allemann einen anderen seiner Zunft verinnerlichen kann. Auch wenn Allemann den zuweilen moralischen Happy Ends von Hebel nicht immer traut und sie wegliest, als wolle er sie streichen — oder gerade auch deshalb muss man feststellen: So ist Hebel lang nicht gelesen worden.


Claudia Gabler