Presse aktuell 2010


 
Süddeutsche Zeitung vom 8./ 9. Mai 2010

Der Rheinpublizist   

Auch im aufgeklärten Obrigkeitsstaat ist Opportunismus die Gesinnungstreue der Kleinen

Die Hauptmasse der Erzählungen des „Rheinländischen Hausfreundes“ entstand in der napoleonischen Epoche zwischen 1807 und 1815. Die zeitlos-schönen Geschichten Johann Peter Hebels, später in einem „Schatzkästlein“ für die Ewigkeit aufgehoben, standen zuerst in einem Kalender, der nicht nur Sternenlauf, Naturphänomene und Bauernregeln behandelte, sondern auch von der großen Politik berichtete. Wer das in den ursprünglichen Fassungen liest (etwa in dem von Hannelore Schlaffer und Harals Zils herausgegebenen, 1999 bei Hanser, jetzt bei dtv erschienenen Band der „Kalendergeschichten“), erlebt ein letztes Mal die alteuropäische Form der Chronik: Historie, Weisheitslehren und Natur in einem engen Zusammenhang, bei dem der Rhythmus der Jahre mit Sommer und Winter den Takt angibt, während die große Weltgeschichte an den flammenden Horizont gerückt ist.

Dort aber bleibt sie durchaus unvergesslich. Wer Hebel überhaupt gelesen hat, wird sich seiner Darstellung des Brands von Moskau 1812 erinnern, einer unerhörten Kriegskatastrophe, die Hebel rhetorisch glanzvoll in wenige Worte fasst: „Wer auf einer Anhöhe stand, soweit das Auge reichen mochte, war nichts zu sehen als Himmel und Moskau. Her- nachmals nichts als Himmel und Flammen. Danach aber entwickelt er dieses Bild ein zweites Mal, aus der Nahsicht, in- dem er seinen ländlichen Leser auffordert, von einem einzelnen Hausbrand auf dieses riesige Ganze von zwanzigtausend brennenden Häusern hochzurechnen. Wahrlich: „Wer Moskau angezündet hat, hat viel zu verantworten.“

Wer das war, sagt Hebel nicht, aber er sagt, worin die Verantwortung vor allem bestand: Der Brandstifter war schuld am grausamen Untergang der bis dahin siegreichen Großen Armee des Kaisers der Franzosen bei ihrem überstürzten winterlichen Rückzug. Das ist eine unerwartete Wendung: Nicht auf die Moskauer Brandopfer, sondern auf die französische Armee läuft Hebels Geschichte zu. Nun waren in dieser Armee auch badische Landsleute Hebels und seiner Leser, immerhin 7000 Mann, von denen nur ein Bruchteil nach Hause zurückkehrte.

Das Großherzogtum Baden — zu diesem Rang erst durch Napoleon aufgestiegen und selbstverständlich Mitglied im Rheinbund, der junge Großherzog war Schwiegersohn des Kaisers — gehörte zu den Gewinnern der napoleonischen Vorherrschaft in Deutschland, ähnlich wie Bayern, Sachsen und Württemberg. Die Kalender, die Hebel Jahr um Jahr schrieb, gehören durchaus in diesen politischen Kontext, den die Kommentare übrigens meist ganz stiefmütterlich behandeln. Warum interessieren sich die Literaturhistoriker der deutschen Klassik und Romantik so wenig für die Presse-Zensur und die Postüberwachung in der napoleonischen Zeit? Es gibt sogar Briefe Goethes, die man nur richtig versteht, wenn man ihnen das Bewusstsein solcher Überwachung abliest.

Hebel hat sich als loyaler Diener seiner Fürsten Karl Friedrich (bis 1811) und Karl Ludwig Friedrich (bis 1818) im rheinbündlischen Sinne verhalten. So hat er die Geschichte des Tiroler Aufständlers Andreas Hofer, wie Heide HeIwig in ihrer Biographie resümiert, ganz im Sinne eines mittelalterlichen Beispiels für „Superbia“, also anmaßenden Stolzes, behandelt: Der Gastwirt will sich auch einmal bedienen lassen und Hof halten. Sonst ist nicht viel davon zu halten: „Im Trüben ist gut fischen. Sie wollten nimmer bayrisch sein. Viel Köpfe, viele Sinne, manchmal gar keiner. Sie wußten zuletzt selber nimmer recht was sie wollten.“

So spricht der bürokratisch aufgeklärte Obrigkeitsstaat, den die napoleonische Zeit in Deutschland weit mehr brachte als irgendwelche bürgerlichen Freiheiten. Wer auf dieser Spur weiterliest, wird Dutzende Hinweise auf die beispiellos bewegte Epoche im Hintergrund finden. Der große Kaiser selbst erscheint in dem unpolitischen Bild des Worthaltens gegenüber einer einfachen Frau in der „ Obstfrau von Brienne“. Am Krieg von 1806 sollen die Preußen schuld gewesen sein — das konnte man schon damals anders sehen. Die
Kontinentalsperre gegen England wird neutral bis wohlwollend erklärt: „Weil England durch den Handel alles bare Geld aus dem festen
Land herüber fischt, und seine ganze Macht in seinem ungeheuren Reichtum besteht so versperrt man ihm den Handel.“ Das am Rhein nah an Frankreich gelegene Baden wechselte im Dezember 1813 als letztes deutsches Fürstentum die Front ins alliierte Lager— da war der Kalender für 1814 längst geschrieben, so dass Hebel 1815, als die „Reise nach Paris“ der antifranzösischen Mächte bereits beendet war, sich listig aus der Affäre ziehen musste: „Auf einen Kalendermacher schauen viele Augen. Deßwegen muß er sich immer gleich bleiben, das heißt, er muß es immer mit der siegenden Parthie halten.“ Opportunismus als Gesinnungstreue der Kleinen, über die die Geschichte hinweg- rollt — das ist eine Antwort, über die man länger nachdenken kann; zumal der Hausfreund angesichts der Vivat-Rufe für die Bourbonen „hat fast ein wenig erschrecken wollen, daß der Zeiger der Weltuhr so auf einmal auf das Jahr 1789 zurück- schnellte“. Hebels von Natur und Gestirnlauf grundierte Nahferne zur zeitgenössischen Geschichte verdiente noch genauere Betrachtung. GUSTAV SEIBT