Presse aktuell 2010


 
Süddeutsche Zeitung vom 8./ 9. Mai 2010

Kafka Schulmeister   

Hebels Harmlosigkeit und Genie

Von Martin Mosebach

Unter den großen Schriftstellern des frühen neunzehnten Jahrhunderts, die das moderne Deutsch geschaffen haben, verkörpert Johann Peter Hebel den bis zur Biederkeit unproblematischen Typus. Der optimistische Schullehrer war als Aufsteiger aus dem Kleinbauerntum

verspäteter Aufklärer, konservativer Bonapartist, schließlich evangelischer Superintendent in Karlsruhe und Volkserzieher — alles, was man da hört, klingt sehr ehrenwert, aber außerordentlich unmusisch. Wenn man sich die Möbel der Hebelchen Lebenszeit vor Augen
stellt, saubere, steife Klapprigkeit und rechtschaffene Ärmlichkeit, dann meint man auch der ästhetischen Atmosphäre des Hebel-Sprachstils nahe zu sein.

„Das Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“, der Bauernkalender, dessen Redaktion er übernahm, präsentierte in den kleinen Geschichten und Anekdoten, die seinen Ruhm begründet haben, eine Welt der Federbetten, Tabakspfeife, Maulschellen, Heringstonnen, Stammtische, Stiefelknechte, Kochlöffel, Filzpantoffeln und Stabstrompeter, deren idyllische Harmlosigkeit den ersten Verhältnissen, in denen diese Stücke entstanden sind, keineswegs angemessen war.

Doch wie oberflächlich sind diese gewiss zutreffenden Beobachtungen, wie unfähig, der Sprache Hebels gerecht zu werden! Einfachheit und Klarheit werden als ihre Merkmale genannt, aber was ist das für eine Einfachheit, die jedem einzelnen Wort Geheimnis, Buntheit und Tiefe verleiht — welche Klarheit verfügt über solchen Reichtum an Stimmung und .Musikalität? Volkstümlich wollte Hebel schreiben — aber das Volk, dem diese Sprache entsprochen hätte, das musste in dieser Mischung aus Unschuld, Klugheit, Witz und Geschmack wohl noch erfunden werden. Wie Luther einst mit seiner Bibelübersetzung ein neues Deutsch schuf, so entwickelte Hebel sein scheinbar volkstümliches Deutsch aus der Lutherbibel, deren Sprache er mit verblüffender Lässigkeit wieder ins Umgangssprachliche überleitete — dem Umgangssprachlichen hinwiederum gab er die Kraft zur Sentenz und großer, geradezu antiker Lakonie.

Es gehört zu den erfreulichsten Phänomenen der neueren Literaturgeschichte, dass Hebels Genie von den Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur erkannt wurde, dass aus dem badischen Schullehrer vielmehr sogar der vielleicht einflussreichste Lehrer, das wirkmächtigste Modell der modernen deutschen Literatur neben Heinrich Heine geworden ist. Man muss eine Sprachkunst bewundern, die so unterschiedlichen Schriftstellern wie Bertolt Brecht, Robert Walser, Franz Kafka und W. G. Sebald zu ihrem je eigenen Ausdruck verhalf. Alchymisch möchte man das Verwandlungsvermögen dieser magischen Sprachmaterie nennen, die aus Hebels Vernunft, Menschenliebe und Reinheit Brechts demagogische Aggressivität, Walsers zärtliche Absurdheit, Kafkas negative Theologie und Sebalds depressive Nekrophilie werden lassen konnte. Hebel und seine Schüler haben das schwierigste Kunststück der deutschen Hochsprache als einzige gemeistert: zu schreiben, dass es klingt wie gesprochen. Den Schülern ist es sogar gelungen, damit weltberühmt zu werden, was dem Meister versagt blieb.