Presse aktuell 2010


 
Süddeutsche Zeitung vom 8./ 9. Mai 2010

Das Leben an einer unsichtbaren Hand     >pdf<

Ein Klassiker, sehr ernst und sehr leicht zugleich: Vor 250 Jahren wurde der Dichter, Theologe und Pädagoge Johann Peter Hebel geboren

Er ist eine Ausnahme unter den deutschen Klassikern. Denn ihm hat es nicht geschadet, dass seine Texte in Schulbücher aufgenommen wurden. Die meisten anderen büßten diese zweifelhafte Ehre damit, dass viele ihrer jugendlichen Pflichtleser einen lebenslangen Widerwillen gegen sie entwickelten. Aber wer im Deutschunterricht Bekanntschaft mit dem „Kannitverstan“, dem „Unverhofften Wiedersehen“ oder dem „Unglück der Stadt Leiden“ gemacht hat, erinnert sich auch später gern an Johann Peter Hebel (1760-1826) und seine „Kalendergeschichten“. Dieser seltsame Erfolg dürfte darin begründet sein, dass Hebel das pädagogische Fach sehr ernst und zugleich sehr leicht genommen hat. Seine Erzählungen dienten einem Zweck, gingen aber nicht in ihm auf. Sie sollten erziehen. Dazu aber mussten sie lebendig sein, spannend und voller Überraschungen, heiter und schön. Wie kaum ein anderer ist Hebel diesen gegensätzlichen Anforderungen gerecht geworden.

Hebels 250. Geburtstag am 10. Mai ist ein willkommener Anlass, frühschulische Erinnerungen aufzufrischen. Zwei Biographien wollen dabei helfen. Auf dem Sachbuchmarkt ist die Biographie die gebräuchliche Darbietungsform eines Klassikers Denn sie ist leichter fasslich und angenehmer zu lesen als eine thematische Studie. Aber auch eine Biographie braucht — jenseits des Jubiläumsmarketings — eine Fragestellung. Das gilt besonders dann, wenn das zu erzählende Leben wie in Hebels Fall nicht eben ereignisprall war. Die Frage, die einer Hebel-Biographie am ehesten eine argumentative Richtung geben könnte, zielt auf das besondere Verhältnis von Literatur, Pädagogik und Religion.

Denn Hebel steht für eine Frömmigkeit, die sich über sich selbst Aufklärung verschafft hat, die ihren Nutzen darin gefunden hat, Menschen zu einem guten Leben zu führen, und die sich darüber hinaus ästhetisch überzeugend darzustellen weiß. Für gewöhnlich nennt man so etwas „Kulturprotestantismus“, doch leider ist dies zumeist nur eine Parole, die theologische Fortschrittsfreunde skandieren, ohne sie selbst einzulösen. Warum ist es ausgerechnet Hebel, dem jeder programmatische Furor fremd war, gelungen, zusammenzubinden, was bei den meisten anderen auseinanderfiel? Eine Biographie, die darauf eine Antwort fände, würde nicht nur ein längst vergangenes Leben nacherzählen, sondern heutigen Lesern zu denken geben.

Sie wäre, so befremdlich das für manche auch klingen mag, theologisch interessant. Denn sie würde zeigen, was für ein „Schatzkästlein“ die so oft belächelte evangelische Aufklärung darstellt, welche Reichtümer an Humanität, Lebensweisheit, politischer Urteilskraft, Gottvertrauen und Humor sie bereithält. Zugleich könnte sie davon erzählen, welche inneren Widersprüche darin verborgen liegen. So wenig Hebel es mit der alten echthaber-Orthodoxie hielt, so wenig konnte er sich mit einer rationalistischen Gleichschaltung. des alten christlichen Glaubens anfreunden. Er blieb auf ganz eigene Weise dazwischen.

Das zeigt sich auch an seinem Berufs- weg: das Waisenkind, das Theologie studieren musste, aber nicht in den Pfarrdienst wollte, sondern die Schullaufbahn wählte, Stufe um Stufe erklomm, schließlich Mitglied der obersten Kirchenbehörde wurde und doch am Ende seines Lebens eine fiktive .„Antrittspredigt vor einer Landgemeinde“ verfasste. Diese erzählt von seiner Sehnsucht nach einer schlichten Pfarrstelle, deren Erfüllung er selbst jedoch zu verhindern gewusst hatte, und mündet in ein zwiespältiges Bekenntnis: In seinem‘ Leben sei er „an einer unsichtbaren Hand immer höher hinan, immer weiter von dem Ziel meiner bescheidenen Wünsche hinweg geführt worden“. In diesem paradoxen Satz klingen sowohl ein fester Vertrauensglaube an wie auch die Resignation darüber, dass eine glänzende Karriere in die Selbstentfremdung führt. So wurde Hebel ein Prälat, der meinte, „nicht koscher im Glauben“ zu sein, ein Vertreter des Establishments, der eine anarchistische Sympathie für Außenseiter kultivierte, der das Vertrauen in Gottes Vorsehung predigte und zugleich ein. „apokalyptisches Wetterleuchten“ (Niklaus Peter) durch seine Erzählungen ziehen ließ. Solchen theologischen und existentiellen Ambivalenzen müsste eine Hebel-Biographie nachgehen und zeigen, wie daraus große Literatur hervorgehen konnte. Sie müsste beweisen, dass die evangelische Aufklärung durchaus ein gutes Stilprinzip sein kann.

Darin wäre sie auch für die heutige Literaturwissenschaft interessant. Denn es würde die verbreitete Auffassung als Klischee entlarvt, wonach eine Literatur nur dann als modern gelten darf, wenn sie sich in die dunkelsten Sinnabgründe des Seins versenkt, und würde dafür eine verfemte Gattung zu überraschend neuen Ehren bringen: eine Literatur, die ihren Lesern nicht nur Kunstgenüsse, sondern auch Lebenshilfe bescheren will, die eine Absicht verfolgt, ohne sich funktionalisieren zu lassen, die eine Position vertritt, ohne berechenbar zu sein — das nämlich ist Erbauungsliteratur, wie Hebel sie verstand.

Eine umfangreiche und anspruchsvolle Hebel-Biographie hat nun Heide Helwig im Hanser—Verlag veröffentlicht. Sie will nicht einfach seinen Lebenslauf nachbuchstabieren, sondern versucht, die Spannungsfelder auszumessen, in denen Hebel sich bewegt hat: zwischen Stadt und Land, äußerer Enge und innerer Weite, Armut und Reichtum, Kirche und Schule, Orthodoxie und Aufklärung, Beamtendienst und freier Kunst, Freundschaft und Einsamkeit. Dieses Programm gewinnt dadurch Kontur, dass Helwig die Kalendergeschichten nicht etwa in nur einem Kapitel verhandelt, sondern sie wie einen inneren Faden fast durch das ganze Buch laufen lässt.

Das ergibt viele erhellende Querverweise zwischen Leben und Werk, vor allem eine große Lebendigkeit. Zudem hat HeIwig eine Fülle an interessantem Material zu bieten. Allein dafür muss man ihr schon dankbar sein. Allerdings verliert die Autorin sich auch oft in Details. Vor allem aber fehlt ihr vieles von dem, was Hebels Prosa auszeichnet: der Sinn für sprechende Anekdoten, knappe Formulierungen und überraschende Wendungen. Dieser Vergleich ist natürlich ein bisschen unfair. Von einem Napoleon-Biographen würde man nicht fordern, dass er selbst schon eine große Schlacht geschlagen habe. Bei einer Hebel-Biographin hätte man es aber schon gern, wenn sie einfach und witzig schreiben könnte.

Diese Schwäche zeigt sich bei der größten Stärke des Buches: Es ist eine Fundgrube an wunderbarsten Hebel-Zitaten. Doch versteht HeIwig diese Zitate nicht auszudeuten oder dramaturgisch einzusetzen, sondern umrahmt sie mit Sätzen, die das Gleiche noch einmal sagen — nur schlechter. Sie präsentiert lauter Perlen, zieht sie aber nicht auf eine Silberschnur, sondern fasst sie in lauter Binsen ein. Das zeigt sich besonders in den Passagen zu Hebels Frömmigkeit, mit der die Autorin erkennbare Mühe hat.

Das Alternativangebot des Beck-Verlags von Bernhard Viel bringt weniger, aber das gereicht ihm nicht zum Schaden. Es hat die Menschen vor Augen, die erst noch Hebel-Leser werden wollen. So wählt Viel einen direkteren Zugriff und eine schlankere Sprache. Seine Biographie folgt einem konventionelleren, aber keineswegs unsinnigen Plan. Er schreitet Kapitel für Kapitel Hebels Lebensstationen ab, wobei er sich besonders ausführlich der Kindheit und Jugend widmet. Dabei gelingt es ihm, den frühen Tod der Mutter als Hebels Urtrauma anschaulich werden zu lassen, von dem aus sich vieles erklärt: Hebels Wunsch, durch unermüdliche Arbeit aufzusteigen, seine Frömmigkeit, seine Heimatliebe, seine Lebens- angst, sein ewiges Junggesellentum. Mit vergleichsweise wenigen Strichen zeichnet Viel die ganze Komplexität eines heiter-unglücklichen Menschen. Hilfreich sind die Passagen, in denen er Hebels Texte in die literarischen Zusammenhänge seiner Zeit einstellt. Hier widmet er sich besonders den alemannischen Gedichten. Eine eigene Fragestellung wird bei ihm aber auch in dieser Biographie nicht wirklich sichtbar.

Es ist glücklicherweise keine Kunst,. Hebel zu lieben. Das können viele, und noch mehr sollten es tun. Aber es ist eine hohe Kunst, das Liebenswerte an ihm auf den Begriff zu bringen. Dafür benötigt man nicht nur historische und literarische Kenntnisse. Das Hebel-Jahr hat zwei sehr lesenswerte Biographien hervorgebracht, die zu erneuter Hebel-Lektüre anstiften. Dass sie für den eigentümlichen religiösen Charme dieses Lebens, dieses Werks wenig Sinn und keinen rechten Begriff besitzen, kann man den beiden Autoren jedoch nicht als persönliches Versäumnis vorhalten. Denn dies ist auch ein Zeichen dafür, wie weit inzwischen Literaturwissenschaft und Theologie einander entfremdet sind.

JOHANN HINRICH CLAUSSEN

HEIDE HELWIG: Johann Peter Hebel. Biographie. Carl Hanser Verlag, München. 2010. 367 Seiten, 24,90 Euro.

BERNHARD VIEL: Johann Peter Hebel oder Das Glück der Vergänglichkeit. Verlag C. H. Beck, München 2010. 296 Seiten 22,95 Euro.