Presse aktuell 2010


 
Neue Züricher Zeitung vom Samstag den 8. Mai 2010

Glückliches Missverstehen

Zum 250. Geburtstag von Johann Peter Hebel

Als alemannischer Mundartdichter und Verfasser von Kalendergeschichten ist‘ Johann Peter Hebel in die Literaturgeschichte eingegangen. Im lichten Tonfall des Dialekts und mit unheimlicher Komik hat dieser sanfte Skeptiker und Moralist alles Abgründige in Sprachlust und Dichtkunst verwandelt.

Manfred Koch
Im Schlaf war er noch witziger als im Wachen. Generationen vor der offiziellen Geburt des Surrealismus schrieb Johann Peter -Hebel Traum- berichte, deren absurde Zusammenstellungen einem Bild von Dalí oder Max Ernst Ehre gemacht hätten: «Den 4. Dezember kam in einem unbekannten Zimmer ein Löwe zu mir. Es war mir nicht wohl zumute, als er sich mit den Vorderfüssen mir auf die Achseln legte, zumal da ich bemerkte, dass er an denselben einen Ausschlag hatte. Als er aber mit mir zu sprechen anfing, ward mir ganz wohl in. seiner Gesellschaft, und ich wunderte mich, dass man nicht an jeder Gelehrtenschule sprechende Löwen halte — als Professoren der Naturgeschichte oder der tierischen Psychologie oder der Geographie von Afrika, das weiss ich nicht.» Typisch für Hebel ist die Entmächtigung des Furchterregenden durch ein grotesk-komisches Detail. Der Löwe, der ihn fressen könnte, hat Fusspilz oder irgendein Ekzem — das ist die Ursache des Unbehagens. Mit einem Hautkranken aber ist immerhin ein Gespräch möglich. Am Ende lässt sich ganz manierlich mit der Bestie reden, sogar eine Festanstellung im Schuldienst kommt in Betracht.

Warten auf Erlösung
Begegnungen mit monströsen Gestalten, die unversehens geradezu drollig wirken und doch nicht ganz ihren Schrecken verlieren, gibt es häufig in Hebels Schlaferlebnissen. Einmal ist er zu Besuch in der Hölle, wo .die Verdammten «in der Gestalt heisser Fische und anderer Seetiere in einem warmen Zimmer zwischen Buchenblättern» liegen. «Ich hauchte einen an, das.t4t ihm wohl.» Der sündige Fisch dankt für die Frischluft, worauf ihm das Traum-Ich weitere Kühlung verschaffen will. «Aber er streckte mir den Kopf mit einem so entsetzlichen Ausdruck des Wohlbehagens entgegen, dass ich vor Grauen nimmer länger in der Nähe bleiben konnte.“
Die Tiere am Grund der Seele dieses Nachtprotokollanten harren offensichtlich der Erlösung, nicht anders als — in einem noch verfänglicheren Traum — «zwei weibliche Mumien», von denen sich eine an ihn heranmacht, um ihn auf die Brust zu küssen. Er weicht ihr anfangs nicht aus, was er sofort bereut: «bald gedachte ich, dass ich sterben müsste, wenn ich mich von ihr auf die Brust küssen liesse». Für psychoanalytisch orientierte HebelInterpreten sind solche Stellen ‘der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Biografie. Sie bezeugen, so ihre Deutung, die Angst des lebenslangen Junggesellen vor dem weiblichen Körper, ausgelöst durch ein frühes familiäres Trauma. Hebel war dreizehn Jahre alt, als er seine kranke Mutter mit dem Ochsengespann von Basel ins Heimatdorf Hausen zurückbringen wollte, um sie dort gesund zu pflegen. Doch Ursula Hebel starb unterwegs, auf jenem Streckenabschnitt, den ihr Sohn später zum Schauplatz seines grandiosen Dialoggedichts «Die Vergänglichkeit» gemacht hat.

Angst vor Nähe
Es ist gut vorstellbar, dass der Jüngling im beginnenden Pubertätsalter von dieser Erfahrung ein Grundgefühl der Ausgesetztheit und der Schuld zurückbehielt. Sein Vater und seine kleine Schwester waren gestorben, als er ein Jahr alt war. Die Mutter hatte ihn, ihr einzig verbliebenes Gut, in einer streng religiösen Seelengemeinschaft großgezogen. Nun konnte er sie nicht retten. Auffällig oft sucht die töte Mutter den Erwachsenen in seinen Träumen heim. Einmal, 1812, kommt sie «aus dem Grabe zurück» und fordert «9 Reichsthaler» von ihm. Er bezahlt anstandslos, das Geld landet dann bei einer ausdrücklich als «gefährlich» bezeichneten «Weibsperson». Hat Johann Peter He-, bei mit dem Eheverzicht, der Liebesangst, seine Lebensschuld(en) gegenüber der Mutter zu begleichen versucht? -
Solche Erklärungsmuster. klingen‘ plausibel, im Fall Hebel wollen sie dennoch nicht recht greifen. Dieser Autor aus der Epoche der deutschen Klassik und Romantik vermittelt das schwindelerregende Gefühl, er habe seinen Freud so gut gelesen wie die Interpreten, die ihn seit dem.20. Jahrhundert damit auslegen. 35 Jahre lang unterhielt er eine innige Briefbeziehung mit der schwäbischen Pfarrerstochter
Gustave Fecht, die ebenfalls unverheiratet blieb, weil sie, wie viele Biografen vermuten, vergeblich auf Hebels Antrag wartete. Der aber bekannte ihr brieflich ganz, lauter, dass er sie eigentlich nur als Schreib-Liebe begehrte: «Mein Gemüth ist Ihnen nie näher, als wenn ich weit von Ihnen bin, und ich habe immer mit Ihnen etwas zu plaudern, bis ich einmal hinaufkomme, alsdann hab ich nichts.» Und im heiterstem Tonfall informiert er die Freundin auch über den psychischen Komplex, der ihn vor intimer Nähe zurückschrecken liess: «Wir sind eben arme Sünder und unsre Mütter haben uns in Sünden empfangen. Lieb Mama werden‘s nicht übel nehmen; die meinige hat mir‘s mehr als einmal gestanden und mir oft vorausgesagt, es werde mir mein Lebtag nachgehen.»
Wer diesem selbstironisch-aufgeklärten Gemüt Verdrängung oder neurotische Zwanghaftigkeit nachweisen will, kommt immer schon, zu spät. Hebel kannte seine Verstörungen, seine Ängste, litt gewiss auch darunter und genoss doch auch die Lust, damit fabulierend zu spielen. Die Traumaufzeichnungen sind ja‘ nicht zuletzt Produkte des wachen Kopfes, der die abgründigen Visionen der Nacht in schillernde Erzählungen verwandelt. Die heikle Kooperation von träumendem Leib, der auch -Traum-Schrecken gebiert, und hellem, witzigem Sprachbewusstsein hat Hebel wiederum in einem unheimlich-komischen Traumbild festgehalten: «Einem wurde der Kopf abgehauen. Kopf und Rumpf lebten fort. Wenn aber der Rumpf einen Brief schreiben wollte, musste er zum ‘Kopf sitzen, wie zu einer Laterne.»

Karriere in der Kirche
So wenig wie. ‚auf das Abenteuer Ehe wollte Hebel sich auf berufliche Unsicherheit einlassen. In seinen Kalendergeschichten wimmelt es von «losen Gesellen», Vagabunden, geistreichen Spitzbuben und schelmischen Lebenskünstlern. Er selbst hat äusserst diszipliniert Karriere gemacht, bis er am Ende erster Prälat der evangelischen Landeskirche Badens‘ war. In der durch und durch protestantisch geprägten deutschen Literaturszene des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat es ausser Herder kein anderer Autor in der kirchlichen Hierarchie soweit gebracht wie Hebel. Ähnlich wie sein Weimarer Pendant hat auch er sich unablässig über die Dienstpflichten beklagt, im Unterschied zu Herder jedoch fast immer in versöhnlichem, humorigem Ton.
Hebel war ein Meister des Sicharrangierens, einer Kunst, die er als Kalendermann auch seinen Lesern nahebringen wollte. Kleinbeigeben, so liese sich diese Lehre umschreiben, ist für den eigenen Seelenfrieden und das Gemeinwohl meist bekömmlicher als prinzipienfester Widerspruch, und wer drohende Konflikte gewitzt genug unter- läuft, ist letztlich sogar der Überlegene. Manchmal resultiert solche Überlegenheit auch gar nicht aus der besonderen Schläue, sondern — fast noch schöner — aus der heiligen Einfalt des Nachgiebigen. Das ist der Fall in der kleinen Geschichte «Missverstand» (1808), in der eine französische Schildwache ihr deutsches Gegenüber, einen «schwäbischen Kreissoldaten», mit dem Anruf «Filu, Filu» provozieren will. Der Schwabe kann kein Französisch, er versteht «Wie viel Uhr?» und antwortet gutmütig:
«Halber vieri». Hätte er korrekt «Spitzbube» übersetzt und wäre in Wut geraten, hätten die beiden vielleicht die Waffen gezückt und einander, hebelisch gesprochen, ein wenig totgeschossen. Die Erzählung ist auch ein Beispiel dafür, wie Hebel, der unpathetische Moralist der Streitvermeidung, auf das Menschenfreundliche des Dialekts setzt. Man achte einmal darauf, wie sich der Text verändert, wenn man das hochdeutsche «halb vier», zwei harte Einsilber, an die Stelle der melodischen schwäbischen Zeitansage setzt.

Glück des Missverstehens
Vom Glück des Missverstehens handeln viele Hebel-Geschichten, die bekannteste unter ihnen ist natürlich «Kannitverstan». Der Tuttlinger Handwerksbursche in diesem Text ist nach heutigen Massstäben ein interkultureller Versager. Weil er die niederländische Lebenswelt aber so gar nicht begreift, kommt es in ihm zu einem Selbstverständigungsprozess, der ihn zuletzt doch in die fremde Gesellschaft integriert. In einem Gasthaus (wo er — zugegeben — auf Deutsch bestellen kann) isst er vergnügt seinen «Limburger Käse». Der wahre Universalismus ereignet sich bei Hebel auf der Ebene von Knackwurst und Bier. In ihrem elementaren Bedürfnis nach Frieden, Geselligkeit und ausreichendem Essen sind sich die Menschen überall gleich; sie vergessen es nur dauernd und überziehen einander mit prononcierten Geltungsansprüchen, die zu blutigen Konflikten führen.
Alle Kriege sind, wie der Sprachskeptiker Hebel notiert, im Grunde «Wortkriege». Die Erde konnte ein grosses Gasthaus sein, wenn die Menschen nur mit- bzw. nebeneinander essen und nicht wechselseitig ihre vermeintlichen Wahrheiten durchsetzen wollten. Eine Lieblingsfigur Hebels ist deshalb jener Richter in «Willige Rechtspflege», der das eindeutige Verstehen und Urteilen einfach ins Leere laufen lässt. Er hört erst die eine Partei an und gibt ihr recht; Dann vernimmt er die andere und stimmt ihr ebenfalls zu. Als der Amtsdiener ihn auf den unauflösbaren Widerspruch hinweist, antwortet der Beamte: «So klar war die Sache noch nie. Du hast auch recht.»


LEBEN UND WERK JOHANN PETER HEBELS
koc. . Johann Peter Hebel wird am 10. Mai 1760 als Sohn der Dienstleute Johann Jakob und Ursula Hebel in Basel geboren. Mit 13 Jahren wird er Vollwaise und kommt aufs Gymnasium nach Karlsruhe, wo er 1780 auch das Theologieexamen ablegt. Eine Pfarrstelle hat Hebel nie angetreten, dafür wird er in Karlsruhe nacheinander Hofdiakon, Gymnasialprofessor, Kirchenrat, Lyzeumsdirektor und schliesslich Prälat der evangelischen Landeskirche. Ab 1800 entstehen die «Allemannischen Gedichte», deren Erscheinen 1803 ihn zum anerkannten, von Jean Paul und Goethe gerühmten Autor macht. Von 1807 bis 1814 ist Hebel im Nebenberuf Redakteur des «Badischen Landkalenders», den er in «Der Rheinländische Hausfreund» umbenennt. Mit den• Kalendergeschichten geht der alemannische Volksschriftsteller Hebel in die Weltliteratur ein. Er stirbt am 22. Sept. 1826. — Herausragend in der Stoffdarbietung und der Erschliessung von Hebels geistiger Welt ist die neue Biografie von Heide Helwig (Hanser-Verlag, München 2010. 367 5., Fr. 42.90). Bernhard Viels Lebensbeschreibung (Beck-Verlag, München 2010, 296 5., Fr. 39.90) wirkt eher konventionell, informiert aber ebenfalls zuverlässig über die wichtigsten biografischen und werkgeschichtlichen Stationen.