Presse aktuell 2010


 
Konradsblatt 19 – 2010 vom 9.5.10

Er war evangelischer Theologe, Prediger, Pädagoge, Naturforscher, Landtagsabgeordneter, Professor. Und Dichter und Schriftsteller. Womöglich der bedeutendste, den Baden und der alemannische Sprachraum hervorgebracht haben. Eine Laudatio auf Johann Peter Hebel.


Der badische Zen-Meister pdf zum Download

Johann Peter Hebel zum 250. Geburtstag

Von Peter Modler*

Den Hebel kennen, wenn überhaupt, noch ältere Leser, vielleicht noch aus der Schule. Für jüngere Leser bekam er bald den Ruf eines heimatseligen Langweilers. In vielen Schulen spielt er mittlerweile auch keine Rolle mehr. Ein paar Literaturspezialisten analysieren noch an ihm herum. Das scheint es dann gewesen zu sein.

Eine miese Entwicklung. Denn tatsächlich ist Hebel der größte Autor, den Baden je hervorgebracht hat. Er ist es, der die Gattung der Kurzgeschichte erfunden hat, die in ihrer verknappten Präzision mindestens so viel Genie braucht wie ein dicker Roman. Anders als viele heutige Autoren schreibt Hebel ohne Zynismus, ohne Selbstanklage, ohne Depression – aber trotzdem realistisch.

Hebel schreibt auch noch in einem Stil, der allein schon durch sein Beharren auf nicht zu schnelle Geschwindigkeit der Geschichte beim Lesen guttut. Wie er es dennoch schafft, mit diesem menschenfreundlichen Tempo nicht zum Langweiler zu werden, ist ein eigenes Kunststück.

Mit welchen Tricks er das hinbekommt, darüber haben Rainer Maria Rilke ebenso wie Franz Kafka und Bertolt Brecht gegrübelt. Hebel hat nicht einmal Hemmungen, so etwas wie Kalauer einzusetzen, aber kunstfertig wie niemand sonst: „Diese Stadt heißt schon seit undenklichen Zeiten Leiden, und hat noch nie gewusst, warum, bis am 12. Jänner des Jahres 1807.“ Da hat’s diese Stadt dann gelernt … Man kann doch hier nicht anders als weiterlesen? Was da passiert ist, kann man doch nur wissen wollen?

Der „Rheinländische Hausfreund“

Der badische Großherzog hatte seit geraumer Zeit seinen Untertanen eine Zeitung verordnet, die als staatliche Zwangserbauung gedacht war. Jeder Haushalt musste den „Badischlutherischen Kalender“ beziehen, und er war herzlich unbeliebt. Das merkte irgendwann auch der Landeschef selbst. Ausgerechnet Hebel wurde von ihm nun damit beauftragt, dem siechen Blatt auf die Sprünge zu helfen. Es ging Hebel gehörig gegen den Strich, aber er machte es schließlich. Der Kalender bekam einen neuen Namen, nämlich den des „Rheinländischen Hausfreundes“. Aber Hebel wusste, dass der Landesherr ein genaues Augenmerk da - rauf hatte und entsprechend schlau musste Hebel arbeiten. Dass es ihm dennoch glückte, Geschichten von seltener Frechheit unterzubringen, spricht Bände über seine taktischen Fähigkeiten.

Aber nach ein paar Jahren war dann doch Schluss mit dem „Hausfreund“, mit Zundelfrieder und Kannitverstan. Die Landesregierung verschärfte den politischen Druck und Hebel warf ihr den „Hausfreund“ hin. Als Hebel diese Texte schrieb, war er an die fünfzig Jahre alt. Nach vielerlei Umwegen als Hauslehrer und Hilfspfarrer hatte er es zum Religionslehrer am Gymnasium der Residenzstadt Karlsruhe gebracht. Für einen Mann seines Alters weiß Gott keine überwältigende Karriere.

Später sollte er tatsächlich Oberkirchenrat werden. Wes Geistes Kind dieser Mann aber eigentlich und im Innersten war, macht weniger seine berufliche Laufbahn deutlich als vielmehr seine Schriften.

Hebels Publikum damals liebte Katastrophengeschichten nicht weniger als wir heute. Darauf geht Hebel ohne zu zögern ein. Er macht’s aber immer in klarer Distanz zum Geschehen; er berichtet, schnörkellos und schrecklich, aber doch mit großer literarischer Raffinesse. Die Einfachheit seiner Sätze ist nur scheinbar so absichtslos hingesagt, es ist ihm nicht zufällig, wenn er von zwei brennenden Menschen sagt, dass sie brannten „rot mit gelbem Schein“. Er gibt sich als bloßer Chronist nur aus, indem er ja bloß beschreibt. Den Leser trifft er damit nur um so genauer. Das geradezu Atemberaubende an diesen Geschichten aber ist sein hintersinniger Witz dabei.

Johann Peter Hebel und die Moral

Da haben sich zwei aus Ungeschicklichkeit mit Alkohol übergossen und dann auch noch an einer umgekippten Kerze angezündet, und sich in ihrer Verzweiflung auf dem Misthaufen gewälzt, um die Flammen zu ersticken. Die Magd kommt mit dem Leben davon, die Herrin nicht (hat sie zu lange gezögert, weil man so etwas nicht tut?). Eben noch hat Hebel von ihrem Tod erzählt – da wirft er uns zum Schluss der Geschichte einen Absatz hin, den er „Merke“ überschreibt.

Man liest und weiß nicht: soll man lachen oder soll man’s lassen, weil es so gemein wäre. „Merke: Wenn man brennt, muss man sich auf einem Misthaufen wälzen.“ Und um das Maß vollzumachen: „Solches ist auch gut für die, welche den Branntwein inwendig im Leib haben.“ Was ist das für eine merkwürdige Moral?

Der lakonische Stil, mit dem Hebel die Geschehnisse beschreibt, ist mit dem feinen Echo von Ironie in seiner Zeit vermutlich ohnegleichen. Den gloriosen Einmarsch der französischen Armee in Russland (mit badischer Hilfe) kommentiert er „Auf der Seite von Russland war allein der Engländer, später auch der Winter“. Damit kann nur ein schlechtes Ende eingeleitet sein und so kommt’s ja auch.

Als nach den furchtbaren Lawinen im Schweizer Winter 1809 ganze Ortschaften unter den Schneemassen begraben werden, endet Hebel mit der Feststellung: „Da ist’s doch besser, in der Ebene zu leben, und in den anmutigen Tälern zwischen den kleinen Bergen, wenn schon auch nicht alles ist, wie man’s wünscht, und kommt manchmal etwas Ungerades, bald von oben herab, bald von den Seiten, rechts oder links.“ Wen schaudert’s nicht, wenn er das heute liest? Hier schreibt ein Autor, der ein biss - chen mehr mit dem Leser vorhat als angenehme Gefühle. Aber was hat er denn dann vor?

Vermutlich sollen die Leser vernünftiger werden. Hebel stellt sich der Katastrophe – aber er schwelgt nicht darin. Ja, da hat es ein Unglück gegeben, und es hat so und so viele Verletzte gegeben und Tote und so viel Stück Vieh und der Schaden war so und so hoch; aber, bei aller Aufregung, eben nicht höher.

Hebel versteht sich als aufklärerischer Christ und darin liegt eine Sorte von Intelligenz, die heute nicht unbedingt häufiger geworden ist als damals. Es ist nicht zu übersehen, dass Hebel in den Geschichten, die er als Katastrophe enden lässt, keinen wirklichen Trost anbieten kann, und wohl auch nicht will.

Es ist seine Sache nicht, der Erbauungsliteratur weitere Kapitel hinzuzufügen. Das klingt nach einer sehr zeitgemäßen Theologie. Schon zu Lebzeiten Hebels gab es darum immer wieder Angriffe, die seine glaubensmäßige Orthodoxie infrage stellten. Tatsächlich ging Hebel mit seiner christlichen Tradition sehr viel freier um als die meisten seiner Zeitgenossen. In seinem Nachlass fand man einen aufgezeichneten Traum, in dem Hebel Jesus begegnet und Angst hatte, „Christus möchte mir ansehen, dass ich nicht kauscher im Glauben sei“. Doch bis zu welchen geradezu existenzialistischen Überzeugungen er am Grunde seiner Seele gelangt war, offenbart erst sein großes Gedicht „Die Vergänglichkeit“.

Zwar tauchen im Gespräch zwischen Ätti und Bub (übrigens von Hebel selbst an den Ort gelegt, wo seine Mutter gestorben war) immer wieder christliche Motive und Bilder auf, doch täuscht das keinen wachen Leser darüber hinweg, dass klassische Trostbotschaften hier gerade nicht ausgesprochen werden. So wie der Ätti altert, altert auch die Welt. Womöglich endet sie im Blitz, im Feuer, verkohlt, und der Ätti hat angesichts dieses Endes für den Bub keinen bessern Trost als die Gewissheit, dass auch er irgendwann froh sein werde, nichts mehr damit zu tun zu haben. Der Ätti wollte jedenfalls auch auf die Erde „nümme hi“. Und doch zögert er keinen Augenblick, mit lauter Stimme den Zugtieren den Befehl zur Weiterfahrt zu geben. Kein Gedanke, dass nun angesichts solcher Aussichten nichts mehr zu tun sei.

Mit dem absurden Witz zur Heilung

Mir fällt zu solchen Geschichten und Gedichten, zu einem solchen Werk in kleinen Dosen mit oftmals bestürzenden Handlungsverläufen und zwiespältigen Lehren nur ein einziger Vergleich ein. Es sind die absurden Lehrerzählungen aus der buddhistischen Tradition des Zen. Für die klassische Zen-Schule ist es geradezu typisch, wenn der Lehrer seinem Schüler absichtlich Rätselbilder vorwirft, so genannte „Koans“, die der arme Jünger nicht nur unmöglich lösen kann, sondern für die es überhaupt keine Lösung gibt. Für Meister und Schüler ist dieser absurde Witz heilsnotwendig. Ist dieser Hebel womöglich so etwas wie ein oberrheinischer Zen-Meister? Womöglich. Ernst Bloch muss etwas Ähnliches empfunden haben, als er bewundernd von Hebels „bäurischem Tao“ gesprochen hat.

Der Kirchenmann Hebel antwortet ganz im Sinne des Zen selten mit einem System, sondern mit einer Geschichte, die ist, was sie ist, ohne alle denkerischen Umwege. Wenn der Weise im Zen dann, wenn er isst, nur isst; dann, wenn er geht, nur geht; und dann, wenn er schläft, nichts anderes tut als Schlafen – so macht sich der Ätti zwar seine Gedanken über ein Ende der Welt, findet darin keine Rettungsbotschaft, braucht sie auch nicht, aber gibt in jedem Fall den Zugtieren das Kommando zur Weiterfahrt: weil gelebt werden soll, was gelebt werden kann. Johann Peter Hebel ist über zweihundertfünfzig Jahre alt? Wenn man ihn liest, kann man das kaum glauben.

*Der Autor ist Unternehmensberater in Freiburg