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Presse aktuell 2010
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Frankfurter Rundschau vom 10.5.10
Gymnasialdirektors Leidenschaften
Theologe, Pädagoge und Erfinder gar wüster Geschichten – heute ist er 250. Geburtstag von Johann Peter Hebel
Von Judith von Sternburg
Johann Peter Hebel träumte nicht nur häufig von
seiner früh verstorbenen Mutter, sondern einmal
auch von seiner Verhaftung als Spion in Paris.
Er habe seine Herkunft verleugnet, schreibt er
dazu in seinen Traumnotaten: „Man ersuchte alle
deutschen Stände, Volkszählung zu machen, wo ein
Mann fehle. Er fehlte in Baden. Man fand in
meiner Tasche ein Moos. Ein Botaniker, welcher
geholt wurde, urtheilte, dass dieses Moos bei
Karlsruhe hinter Gottesaue wachse. Man ließ
einen Schneider kommen, der in Karlsruhe
gearbeitet hatte. Dieser erklärte meinen Rock
als Arbeit des Leib- schneider Crecelius. Man
wollte ihm denselben zur Rekognition schicken,
da gestand ich.“
Hier kommt einiges zusammen: Eine treffliche
Geschichte, in der auch für den rein privaten
Gebrauch jede Formulierung sitzt und kein
Füllwort die fatale Zügigkeit unterbricht, mir
der sich das Netz um den Delinquenten
zusammenzieht. Ein Spaß, der die erst 100 Jahre
später von Sherlock Holmes populär gemachten
Methoden der Deduktion fantasievoll vorausnimmt
— Moos aus der Gegend um Gottesaue, etwas
Schöneres hätte Arthur Conan Doyle nicht
einfallen können.
Mittels einer
Volkszählung wird der Träumer ertappt — wenn das
nicht modern ist
Die Szene schildert aber zugleich einen immer
noch modernen Horror auch für Leser, die gut 200
Jahre später erst recht den kafkaesk
unverhältnismäßigen Aufwand zu fürchten gelernt
haben, den ein Staatsapparat treibt, um seinen
Feinden auf die Spur zu kommen. Und nicht
zuletzt, so deutet es wiederum Hebels Biografin
Heide HeIwig, gibt der Träumende darüber
Auskunft, dass er lieber nicht preisgeben
möchte, wer er ist. Vom Meisterspion jedenfalls
war er im wirklichen Leben Lichtjahre entfernt.
Die Zeiten überdauert, dies darf man anlässlich
seines 250. Geburtstages am heutigen Montag
sagen, hat er als Autor des „Schatzkästleins des
Rheinischen Hausfreundes“ von 1811. Das ist ein
Buchtitel, der in seiner Trautheit nicht mehr
als Verkaufsempfehlung geeignet ist. Dahinter
aber verbirgt sich eine der pfiffigsten
Kurzprosasammlungen der deutschsprachigen
Literatur. Es wimmelt von Kuriosem und
(besonders gerne) Grausigem/Grausamem in diesem
geschliffen auf bereiteten Potpourri aus den
vermischten Nachrichten. Die aufgeklärte Haltung
des Autors lässt vernünftige „Morgenländer“ und
Juden ebenso häufig auftreten wie zwielichtige
Christen.
Vor allem lehrreich sollen die Geschichten sein.
Im „Unglück der Stadt Leiden“ können
beispielsweise Journalisten lernen, wie man
einen buchstäblichen Knalleffekt sich arglistig
heranschleichen lässt (Hebel liebt
Überraschungen aller Art, aber noch mehr liebt
er den Weg dorthin). In den Geschichten vom
Zundelfrieder und Zundelheiner können brave
Staatsbürger lernen, dass Unrecht zwar bestraft
wird, aber Halunken daraus grundsätzlich keine
Konsequenzen ziehen. Und auch die braven
Staatsbürger werden sich klammheimlich darüber
freuen, wenn der freche Zundelheiner am Ende
einer solchen Erzählung sagt: „Ich geb‘s noch
nicht auf‘, und ein paar Seiten also die nächste
Zundel-Anekdote folgen könnte. In den „Drei
Wünschen“ wünscht ein Pärchen, das drei Wünsche
frei hat, so hirnverbrannt drauflos, dass es den
dritten Wunsch dafür verschleudern muss, der
Frau die inzwischen an ihrer Nase angewachsene
Wurst wieder zu entfernen. „Alle Gelegenheit,
glücklich zu werden, hilft nichts, wer den
Verstand nicht hat, sie zu benutzen.“ Davon
könnte sogar alle Welt lernen. Aber natürlich
lernt sie nicht. Aber sie liest es gerne.
Dass eher ein Schillern und Funkeln als eine
Oberlehrer-Moral im „Schatzkästlein“ steckt, und
dass die Moral zudem bei aller Beschaulichkeit
fair und klug, also aufgeklärt ist, ließ auch
weniger kirchlich orientierte Nachgeborene Hebel
schätzen. „Wenn ich mir erlauben darf, als
Reinigungsbad der Seele viel Hebel (mit einem
b), Kleist und Schopenhauer zu empfehlen — das
fegt die Ecken aus“, schrieb Kurt Tucholsky
1934. Weit schwieriger ist es für
Nicht-Alemannen übrigens, mit Hebels
„Alemannischen Gedichten“ zurechtzukommen.
Das Leben des in Basel geborenen Hebel mit einem
b liest sich als Biografie eines Aufsteigers. In
Basel geboren, wächst er in einfachen
Verhältnissen auf, hilft als Kind durchaus im
Bergwerk aus und verwaist früh. Seine Mutter hat
sich gewünscht, dass er Theologie studiert. Das
literarische Schreiben wird wie die
Naturwissenschaft und die Botanik — fast wäre
eine Blume nach ihm benannt worden — eine
geliebte Nebenbeschäftigung des protestantischen
Theologen, Pädagogen und schließlich Karlsruher
Gymnasialdirektors und Prälat der lutherischen
Landeskirche. Hebel sagte dazu: „Was würde meine
Mutter sagen.. .“.
Er passt sich
an und entzieht sich zugleich. Und heillos
überarbeitet ist er auch
Er ist angepasst und wohlerzogen, ruhig und
unauffällig, die Grenzen von Baden und von
Württemberg verlässt er praktisch nie. Und doch
zeigt seine Biografie die Unebenheiten, die
einen Menschen interessant machen. Unerwartet
schwach fällt das Examen des auf einmal
feierlustigen Musterknaben aus und enttäuscht
seine wohlhabenden Gönner. Überraschend
ambitioniert übernimmt er die Redaktion des
„Badischen Landeskalenders“ (später die
Fundgrube fürs „Schatzkästlein“) und macht
Vorschläge zur Gestaltung, die nach wie vor bei
jedem zweiten Zeitungs-Relaunch auf den Tisch
kommen — mehr Farbe, mehr Ruhe im Layout, aber
Auflockerung der „Bleiwüste“ durch grafische
Elemente.... Jedoch verliert er die
Redaktionsstelle wieder, nachdem er ein Textlein
eingebaut hat, das Katholiken antikatholisch
vorkam. Heute ist der Kasus schwer
nachzuvollziehen.
Als Lehrer geht er gegen einige der üblichen
Auswendiglernereien vor, zum Schockement seiner
Vorgesetzten. Er liebt Reiseberichte, unternimmt
aber praktisch nur eine größere Reise (in die
benachbarte Schweiz). Er kennt interessante
Frauen (darunter eine leicht verruchte
Schauspielerin), heiratet aber nicht. Er pflegt
rege Briefwechsel, macht sich aber gerne davon,
wenn berühmte Zeitgenossen den inzwischen
gleichfalls berühmten Herrn Hebel kennenlernen
wollen. Es fällt schwer, ihn sich nicht einsam
vorzustellen. Es fällt leicht, ihn sich als
jemanden vorzustellen, der sich zusammen- reißt,
damit er ein normales Leben führen kann.
In seinen späteren Jahren, als er in Karlsruhe —
damals nicht gerade das Zentrum der geistigen
Welt — Karriere gemacht hat, leidet er unter
chronischer Überarbeitung und permanentem
Zeitmangel. Auch damit winkt er freundlich
hinüber ins 21. Jahrhundert. Auf einer
Dienstreise stirbt er in Schwetzingen im Alter
von 66 Jahren.
Aus den Umständen seiner Beerdigung, schildert
Bernhard Viel am Ende seiner Biografie
eindrücklich, ließen sich leicht mehrere
Kalendergeschichten machen, und zwar unter den
Titeln „Das falsche Grab“ und „Der verkehrte
Leichnam“. Tatsächlich wird sich dem
„Schatzkästlein“ Leser die ihm bekannte Welt
ohnehin bald weitgehend in Kalendergeschichten
auflösen. Da gibt es aber Schlimmeres.
Heide HeIwig:
Johann Peter Hebel. Biographie. Hanser, München
2010, 367
5., 24,90 Euro
Ein sehr reizvoller
Versuch, weniger die Chronologie als das innere
Ticken Hebels ins Zentrum zu rücken. Und ihn
umfassend wahrzunehmen, auch sein fleißiges
Grübeln über das System der fische oder die
„wulstige Überzeugungsarbeit“ in seinen
Aktenschriften. Hebels Sprache scheint sich ein
bisschen auf die Autorin übertragen zu haben,
zur Freude der Leserin.
Bernhard Viel: Johann Peter Hebel oder Das Glück
der Vergänglichkeit. Eine Biographie. C. H.
Beck, München 2010, 2965., 22,95 Euro
Die chronologische Variante, eine solide
Einführung, mehr in Hebels Leben (unter
besonderer und interessanter Berücksichtigung
der Kindheit) als in sein Werk — das wird etwas
unorigineller abgehandelt, als es nötig wäre.
Die Wanderausstellung „Johann Peter Hebel —
Bewegter Geist, bewegtes Leben“ läuft bis 1.
August im Museum am Burghof in Lörrach und geht
anschließend unter anderem nach Schwetzingen und
Reutlingen. Auch der Literatursommer
Baden-Württemberg ist Hebel gewidmet.
www.literatursommer.de
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