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Presse aktuell 2010
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MT vom 18.6.10
Ohne Schock wohl kein Dichter geworden
Vielbeachtete Lesung mit Hebel-Biograf
Bernhard Viel in der Buchhandlung Uehlin
Schopfheim. Der
aus München stammende Literaturwissenschaftler
Bernhard Viel hat einen Lieblingsautor. Er muss
nicht unbedingt Johann Peter Hebel heißen, wie
man vielleicht meinen könnte, weil Viel eine
aktuelle Biografie zum 250. Geburtstag von Hebel
geschrieben hat, die in den Feuilletons große
Beachtung und lobende Besprechungen erfährt. Es
ist vielmehr der bayrische Schriftsteller Oskar
Maria Graf. Der schreibt im Geiste Hebels auch
„Kalendergeschichten“ als Reverenz an den
„Kalendermann“.
Dass es zwischen dem Bayern Graf und dem
Alemannen Hebel durchaus Parallelen gibt und der
Rebell und Heimatdichter vom Starnberger See
sogar eine Neuinterpretation von Hebels
berühmtester Erzählung „Unverhofftes
Wiedersehen“, die vielen als die schönste
Liebesgeschichte gilt, verfasst hat (betitelt
„Das alltägliche Wunder“), das erfuhr man bei
Viels vielbeachteter Lesung in der vollbesetzten
Buchhandlung Uehlin.
Graf denkt Hebels Geschichte über die
unverbrüchliche Liebe der Bergmannsbraut zu
ihrem verstorbenen Bräutigam, der als
konservierte Leiche wieder gefunden wird,
weiter. Auch der Hebel-Biograf Viel lässt die
Interpretation zu, die Frau habe dem Bergmann
die Treue gehalten, weil er früh genug gestorben
ist. Wenn man diesen Vergleich nun gehört hat,
ebenso wie das humorige Kapital über die
beliebten Gaunergeschichten des Zundelfrieders,
diesen schlitzohrigen Helden und Outcast seiner
Zeit aus der Feder des „Hebelfrieders“, versteht
man, warum Viels beim Verlag C.H. Beck
erschienene Hebel-Biografie für ihren
lebendigen, unterhaltsamen und unakademischen
Stil gerühmt wird.
Interessant an Viels Thesen ist auch, dass der
Autor das Persönlichkeitsbild Hebels am frühen
Tod der Mutter ausrichtet, die bekanntlich auf
dem Weg von Basel nach Hausen im Beisein des
jungen Hans Peter starb - für Hebel der „Schock
seines Lebens“. Viel nimmt dieses Lebenstrauma
als Ausgangspunkt seiner Darstellung und zeigt,
dass gerade dieses traumatische Erlebnis Kräfte
freisetzte, die Hebel später so produktiv und
kühn zum Dichter der alemannischen Gedichte und
zum Erfinder der modernen Kurzgeschichte
machten: „Ohne diesen Schock wäre Hebel kein
Dichter geworden“.
JÜRGEN SCHARF
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