Presse aktuell 2010


 
FAZ vom 16.6.10

Hebel, der geneigte und der kritische Leser



Drei Exzerpthefte dokumentieren in Karlsruhe die Weltweite der Interessen im Idyll

Seit 1921 liegen die Exzerpthefte Johann Peter Hebels in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe, eine Hinterlegung des Großherzogs Friedrich II., die im vorigen Jahr in den Besitz des Landes Baden- Württemberg überging. Neunzig Jahre lang haben die drei Kladden wenig Beachtung gefunden. Dabei hätten sie das festgefügte Bild, das man sich vom Dichter machte, leicht ins Wanken bringen können. Aus den jetzt in Karlsruhe digitalisierten und erstmals publizierten Heften blickt uns Hebels geschärftes, um spannende Details bereichertes Profil entgegen. Es zeigt weniger den volkstümlichen Dichter als vielmehr einen Gelehrten mit wachem Gespür für die Umbrüche seiner Zeit.

Weit über tausend Exzerpte von eigener Hand hat Hebel zwischen 1781 und 1802 in seinen Kladden versammelt. Die Bandbreite der Autoren und Wissensgebiete ist erstaunlich und reicht von Theologie, Philosophie und Didaktik über Literatur bis zur Popularästhetik. Hebel liest Kant und Moses Mendelssohn, Goethe und Christian Friedrich Daniel Schubart, Torquato Tasso und Johann Reinhold Forsters „Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammelt“. Die Emanzipation der Juden hat ihn, den Exzerpten nach zu schließen, weit mehr beschäftigt als Geometrie, Bienenzucht und Bergbau. Wie passt das zu einem Dichter, dem nachgesagt wurde, er sei ein volkstümlicher Idylliker und schlichter Praktiker des gesunden Menschenverstandes gewesen?

„Er liebte nicht, viel zu lesen; schöne Literatur am wenigsten; er meinte, lesen verstimme die eigene Vorstellung und Ergiebigkeit; ihm genügten Sachen, die ihn gegenständlich unterrichteten“, schrieb der Hebel-Preisträger Wilhelm Hausen- stein. Und Wilhelm Zentner, Hebels Biograph und Herausgeber einer dreibändigen Werkausgabe, ergänzte: „Dickleibige Bücher sind niemals nach Hebels Geschmack gewesen, mit Ausnahme der geliebten Romane von Jean Paul . . . Theorie und Systematik waren einem Manne verdächtig, der, wenn es ihn nach Rat verlangte, die liebe Schule des Lebens befragte.“

Das klingt eher nach dem Landpfarrer, der Hebel gern gewesen wäre, als nach dem hochrangigen Theologen, dem die evangelische Landeskirche Badens ihre Einigung verdankte. Auch als Prälat hielt Hebel Distanz gegenüber dogmatischen Positionen und arbeitete an einer „situativen Ethik“, wie Franz Littmann im Begleitbuch ausführt. Widersprüchliches schreckte Hebel nicht, im Gegenteil. Die Hefte zeugen von der beharrlichen Suche nach naturwissenschaftlichen Erklärungen für die Bibelwunder, aber im Brief an die Freundin Sophie Haufe heißt es gleichwohl: „Denn was ist das Leben ohne Täuschung oder, wie andere es nennen, ohne Poesie?“


HUBERT SPIEGEL

Anleitung zum Selberdenken. Johann Peter Hebels „Excerpthefte“. Badische Landesbibliothek Karlsruhe, bis 11. September. Das Begleitbuch kostet 18 Euro.