|
Presse aktuell 2010
|
BZ vom 1.6.10
Neue Facetten des gefeierten Dichters entdecken
"Der ganze Hebel" in Schopfheim beleuchtet großen Geist aus literaturwissenschaftlicher, theologischer und pädagogischer Sicht
Der neue Hebel auf der Theaterbühne, der Ökologe
Hebel in einer Ausstellung, Hebel in Popsongs
oder Comics — kaum ein Tag in diesem
Hebel-Jubeljahr, an dem nicht das tradierte
Hebel-Bild entstaubt wird. Nun trat im
Rathaussaal Schopfheim ein Kolloquium an, Johann
Peter Hebel aus literaturwissenschaftlicher,
theologischer und pädagogischer Sicht zu
beleuchten. "Der ganze Hebel" : kein geringer
Anspruch, den man sich gestellt hat bei dieser
Veranstaltung des Städtischen Museums Schopfheim
und des Literatursommers 2010. Denn in Gänze
wird dieser universalbegabte große Geist wohl
schwer zu erfassen sein. Aber was die fünf
Referenten zu Werk und Persönlichkeit Hebels zu
sagen hatten, bot den zahlreichen Zuhörern die
Chance, neue, andere, wenig bekannte Facetten
des gefeierten Dichters kennen zu lernen und die
Aktualität und Ausstrahlungskraft seines Werks
zu überprüfen.
Einblick in den "unbekanntesten Hebel überhaupt"
— so Literaturprofessor und Gymnasialdirektor
Hermann Wiegand, der diese Fachrunde
zusammengebracht hat — gab der Vortrag von
Wilhelm Kühlmann über Hebels lateinische
Schulreden. Kühlmann, Professor an der
Universität Heidelberg, blendete zurück in die
Zeit des studierenden Hebel, der in seinen
lateinisch abgefassten Texten verschiedenste
Themen der Lebensführung, des sozialen
Verhaltens, der praktischen Vernunft, der
Tugenden, indirekt auch die Psychologie von
Jugendlichen behandelt hat. Da bekam man einen
Eindruck, welche Gedanken den jungen Mann in
seiner Zeit als Gymnasiast bewegten.
Vom jungen Hebel ging es zum Hebel der letzten
Lebensjahre, zu den Biblischen Geschichten aus
seinem Spätwerk, die im Schatten der
alemannischen Gedichte und des "Schatzkästleins"
stehen. Der Theologe Gerhard Schwinge griff zwei
Beispiele — die Geschichte vom zwölfjährigen
Jesus im Tempel und die von der Opferung Isaaks
— heraus, um die Eigenart und Wirkung von Hebels
Biblischen Geschichten zu erläutern, die als
Schulbuch für die evangelischen Schulen
entstanden sind und später auch in Bearbeitungen
für katholische Schüler übernommen wurden.
Schwinge legte dar, dass es sich bei diesen
populär erzählten Bibelgeschichten, die sowohl
Kinder als auch ein "allgemeines Lesepublikum"
ansprechen sollten, eher um "Bibel-Dichtungen"
handelt. Denn Hebel gehe inhaltlich über den
Bibeltext hinaus, etwa in "Jesus, der fromme
Knabe" , wo er Bezüge zum Familienleben, aber
auch moralische Appelle an die Kinder einbringt.
Hebel in Schule und Unterricht war das Thema von
Dieter Walz, Rektor in Hausen. Er stellte sein
pädagogisches Konzept vor, wie man Hebel unter
heutigen Aspekten neu betrachtet und damit auch
für Schüler interessant macht. Die
Kalendergeschichten sind für Walz "eine
psychologische und pädagogische Fundgrube" . Aus
diesen Texten könne man vieles herausziehen über
existenzielle Kernfragen wie Liebe, Tod, Treue,
über Menschenkenntnis im Alltag, Zivilcourage,
gewaltfreie Konfliktlösungen, soziale
Verantwortung, Toleranz, religiöse Fragen oder
den Generationenkonflikt. "Das sind Themen, die
hochaktuell und in unserer Zeit wichtig sind" ,
so Walz, der viel "Brauchbarkeit für das
wirkliche Leben" in Hebels Werk entdeckt. Ein
dunkles Kapitel in der
Hebel-Rezeptionsgeschichte griff Hermann Wiegand
auf: Das Verhältnis von Hermann Burte zu Hebel.
Burte, der kurz nach Erhalt des Hebelpreises in
die NSDAP eintrat, habe sich bewusst in der
Nachfolge Hebels gesehen. Doch die Ansätze,
Hebel und das "Alemannische in Hebels Wesen" für
die nationalsozialistische Ideologie zu
"vereinnahmen" , machten Burtes Hebel-Rezeption
höchst problematisch, so Wiegand.
Der ganze Hebel — dazu gehört auch Hebel im
Kontext der modernen Mundartlyrik. Am Vorbild
Hebel, meinte Mundartautor Markus Manfred Jung
aus Wehr, kommt kaum ein Mundartdichter vorbei.
Allzu gerne werde aber vergessen, dass es schon
vor Hebel eine starke Tradition der
Mundartdichtung gegeben habe. Für Jung ist es
wichtig, Hebel nicht nur zu huldigen, sondern
ihn weiterzudenken in der neuen Mundartlyrik.
Als Beispiele brachte er Johannes Kaisers
Gegengedicht zu Hebels "Die Wiese" und Kaisers
zeitkritische Version der "neuen
Vergänglichkeit" , eine Antwort auf das berühmte
Gedicht, aus aktueller Warte mit Blick auf
Atomkraftwerke. Jung selbst hat schon 1989 in
seinem Prolog zum "Schatzkästlein" unter dem
Titel "D’ A 98 Röttler Schloss oder de
schnellschti Weg in d’Vergänglichkeit" einen
neuen Ton in die Auseinandersetzung mit Hebel
gebracht — der auch heute wieder wichtig ist,
wie das Kolloquium zeigte.
|
|
|
|