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Presse aktuell 2010
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Der Sonntag vom 23.5.10
Das inszenierte Glück
HEBEL ALS LYRIKER Sehnsuchtsbilder und aufklärende Unterhaltung
Ne G‘sang in
Ehre
wer will‘s verwehre?
singt‘s Tierli fit in Hurst und Nast, [Strauch
und Ast]
derEngel nit im Sterneglast?
e freie frohe Muet,
e gsund und frölich Bluet
goht über Geld und Guet.
Solch ein „G‘sang“ sind auch Hebels „Allemannische
Gedichte“. Sie wissen sich im Einklang mit einer
gottdurchwirkten Natur, ihre kleine ländliche
Welt ruht sicher und unbezweifelt im
Sternenglanz des Kosmos. So geborgen, singen sie
„gsund und frölich“ von idyllisch-ländlichem
Leben, aber auch von Arbeit und Tod. Und: Sie
singen „in Ehre“. Über die Stränge der Moral von
Fleiß und Genügsamkeit schlagen sie nicht. Im
Gegenteil, sie lehren Moral; sie lehren sie im
Gewand der Poesie.
Die 32 Gedichte der ersten Auflage von 1803 hat
Hebel in nur eineinhalb Jahren geschrieben.
Wenige folgten, der Quell versiegte. Schon in
den 1780er Jahren hatte die mittelhochdeutsche
Lyrik der Minnesänger Hebel angeregt,
alemannisch zu reimen, auch hatte er in
Briefgedichten mit dem Dialekt gespielt. Doch
der Durchbruch zu überzeugend-lyrischem Sprechen
kam erst, als er 1799 von einer Reise ins
„Oberland“ — die Markgräfler Gegend um Lörrach —
in die Residenz Karlsruhe im „Unterland“
zurückgekehrt war.
Die Reise hatte Erinnerungen geweckt an sein
Kindheitsland, an seine Landsleute und den
„Oberländer Dialekt“, seine Muttersprache. Nun
aber ging er in der Residenz seinen oft
staubtrockenen Amtspflichten nach, und die
Sehnsucht, dort oben in heimatlicher
Geborgenheit als einfacher Landpfarrer zu leben,
verstärkte sich. Diese Sehnsucht konnte in
seinen Gedichten, seiner „Liebhaberey in den
Nebenstunden“, Gestalt annehmen.
Sie wurden ein kaum erwarteter Erfolg. Lobende
Rezensionen erschienen, sogar eine Goethes.
Anfangs nur als „H.P.H.“ trat er schon in der
zweiten Auflage offen als „J.P. Hebel, Professor
in Carlsruhe“ hervor. Er wurde zum gefeierten
Mundartdichter, und er genoss es: „Ich kann in
gewissen Momenten (...) mich bis zur Trunkenheit
glücklich fühlen, dass es mir gelungen ist,
unsere sonst so verachtete und lächerlich
gemachte Sprache klassisch zu machen und ihr
eine solche Zelebrität zu ersingen.“
Er hatte das christlich-ländliche Markgräfler
Land und dessen Sprache idealisiert und in
Idyllen neu aufleben lassen, zum Beispiel in
„Sonntagsfrühe“:
Der Samstig het
zum Sunntig gseit:
„Jez hani alli schlofe gleit;
si sin vom Schaffe her und hi
gar sölli müed und schlöfrig gsi,
und‘s goht mer schier gar selber so,
i cha fast uf ke Bei meh stoh.“
So seit er, und wo‘s Zwölf! schlacht,
se sinkt er aben in d‘Mitternacht.
Der Sunntiq seit: „Jez isch‘s an mir!“
Gar still und heimIi bschließt er d‘Tür.
Er düselet hinter de Sterne no,
und cha schier gar nit obsi cho.
Do endli ribt er d‘Auge us,
er chunnt der Sunn an Tür und Hus;
si schIoft im stille Chämmerli
er pöpperet am Lädemli;
er rüeft der Sunne: „D‘Zit isch do!“
Sie seit: I chumm enananderno.“
Wie glitzeret uf Gras und Laub vom Morgetau der
Silberstaub!
Wie weiht e frische Maieluft,
voll Chriesibluest und Schleheduft [Kirschblüte]
Und Immli sammle flink und frisch, [Bienen]
sie wüsse nit, aß Sunntig isch.
Die Wochentage, nahezu mythische Wesen und doch
Menschen wie Du und Ich, der Tageswechsel eine
alltägliche Szene wie unter Nachbarn, eine
schlichte sinnenhafte Sprache, es folgt ein
erstaunendes, ein herzerfreutes Preisen
angeschauter Natur — das klingt, als sänge einer
ungebrochen naiv unmittelbar aus seiner
bäuerlichen Welt heraus. Ja, als spräche diese
Welt selbst sich aus, und das in ihrer eigenen
Sprache, dem Alemannischen. So wurden diese
Gedichte auch immer wieder gelesen.
Doch wer so las, sah nicht alles. Er hätte nur
zurückblättern müssen zum Titelblatt:
Hochdeutsch, nicht alemannisch sind die Gedichte
„Freunden ländlicher Natur und Sitte“ gewidmet.
Solchen also, die sich der ländlichen Natur von
außen wohlwollend zuwenden. Solche Leser
erkennen das lateinische Motto als etwas
verwandelten Vers aus Vergils Erster Ekloge und
bemerken, dass Idyllen angekündigt werden,
Gedichte einer „klassischen“ Tradition also.
Für dieses Publikum, Städter höherer Stände,
sind Worterklärungen beigegeben. Und in Hebels
Briefen finden sich Stellen wie: Es gelte „in
dieser rohen und scheinbar regellosen Mundart
rein und klassisch (...) zu seyn, genau im
Charakter und Gesichtskreis des Völkleins zu
bleiben, aber eine edle Dichtung in denselben
hinüberzuziehen. Meine erste Absicht ist die,
auf meine Landsleute zu wirken, ihre moralischen
Gefühle anzuregen und ihren Sinn für die schöne
Natur um sie her theils zu nähren und zu
veredelen, theils auch zu wecken.“
Hebel hat seine „Allemannischen Gedichte“ aus
räumlichem, sprachlichem, intellektuellem und
sozialem Abstand absichtsvoll und in Kenntnis
der Tradition geschrieben. Und dennoch bemerken
wir es kaum. „Immer hören wir den Sänger der
Natur, und der Artist verräth sich nirgend“
hatte schon der erste Rezensent, der Freiburger
Professor der Schönen Wissenschaften J.G. Jacobi
erkannt.
Wie ist das möglich? — Eben dieser Abstand
gewährte Hebel die Sicherheit, aber auch die
Fertigkeiten, sich angstfrei spielerisch mit
seinen Gefühlen, seinen Fantasien, ja seinen
Ängsten
hineinzubegeben in sein genau erinnertes
Sehnsuchtsland und dort ein Idyllenglück zu
inszenieren, frei von Sentimentalität. Je mehr
er von sich hineingab in sie, desto stärker die
Spannungen, desto ergreifender und gelungener
das Gedicht. Das macht auch die Größe aus von
„Die Vergänglichkeit“.
Für Hebel erinnert das Gedicht an den Ort, an
dem er den prägenden Schmerz seines Lebens
erlitten hatte: Der 13-jährige vaterlose Hans
Peter hatte mit dem Vogt von Hausen auf einem
Ochsenfuhrwerk die kranke Mutter aus Basel
zurück nach Hausen geholt. Doch sie war an der
Stelle gestorben, von der aus man die
Schlossruine Rötteln sieht, in seiner Gegenwart.
Ein Trauma,
das ihn und sein Verhältnis zum „Oberland“
bestimmen sollte: Es wurde das Land seines
Kinderglücks bei der Mutter, aber auch das ihres
Todes.
Das nimmt Hebel ins Gedicht hinein, doch er
kehrt es um, lässt einen „Bub“ mit dem „Ätti‘
dem Vater also, nach Basel fahren. Eine Idylle,
scheinbar naiv im bäuerlichen Milieu. Vertraut
sprechen beide auf dem Karren Dialekt vom
Unvertrauten, vom Tod. Die Ruine vor Augen,
fragt der Sohn nach dem Untergang des eigenen
Hauses, und der Vater belehrt ihn, spricht über
seinen eigenen Tod, den Untergang ihres Dorfes,
Basels und schließlich vom großen Weltbrand am
Ende der Tage. Der Sohn wird immer wieder
ängstlich, der Vater aber beruhigt ihn, bannt
den Schrecken und lässt den Sohn nach dessen
eigenem Tod hinunter schauen aufs verbrannte
Wiesental, durch das sie eben so vertraut
fahren. So führt er ihn wohlgeschützt zur
Erfahrung von Vergänglichkeit und dann wieder
hinein ins Leben: „Hüst Laubi, Merz“ ihr Ochsen
mit den Namen der Frühlingsmonate April und
März!
Im poetischen Spiel inszenierte sich Hebel statt
der traumatischen eine heilende Szene. Er schuf
Nähe und Abstand zugleich, ließ den Bub von der
Milchstraße hinunterschauen auf die Erde wie
Cicero den Älteren Scipio seinen Sohn. Gesichert
durch den Abstand, den solche Traditionen
gewährten, gesichert auch durch das vertraute
Gespräch, das Vater und Sohn führen, konnte
Hebel sich mit seinem Schmerz und seiner
Sehnsucht hineinbegeben in jene Welt „ländlicher
Natur und Sitten“ und aus ihr heraus sprechen,
als wäre dies „Natur‘:
CARL PIETZCKER
CARL PIETZCKER ist Professor der Neueren
deutschen Literaturwissenschaft (pens.) an der
Universität Freiburg. Von ihm erschien:
„Zu Hause, aber daheim nicht Hebelstudien.“
Verlag Königshausen und Neumann, 19,80 Euro.
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