Presse aktuell 2010


 
Frankfurter Allgemeine vom 12. Mai 2010

Geisteswissenschaften                       pdf zum Download

Der Hausfreund und die Juden

Johann Peter Hebel hatte zur Emanzipation der Juden eine ganz eigene Haltung. Nicht ein idealisiertes Bild des Anderen gab er seinen Lesern, sondern eine liebevolle Versenkung ins Reale.

Der 250. Geburtstag von Johann Peter Hebel scheint die evangelische Theologie und Kirche nicht zu besonderen Anstrengungen inspiriert zu haben. Das ist schade, denn aus der Literaturwissenschaft weiß man eigentlich, dass der „poeta minor“ nicht die uninteressanteste Gestalt ist. Dies ließe sich besonders eindrücklich am Beispiel des Autors der „Allemannischen Gedichte“ und der unverwüstlichen „Kalendergeschichten“ belegen, der übrigens auch ein bemerkenswerter „theologus minor“ war — ein Theologe nämlich, der dem oft unterschätzten Begriff der evangelischen Aufklärung einen eigentümlichen Glanz verliehen hat. Deshalb müsste Hebel der Gegenwart eigentlich näher sein und mehr zu denken geben als mancher Reformationsheroe. Abgesehen davon, haben sich die meisten seiner Texte eine viel größere Lebendigkeit bewahrt.

Da ist es schön, dass zumindest ein neuerer Aufsatz auf einen faszinierenden Nebenaspekt von Hebels religionspolitischem Wirken, seiner Theologie und seiner Erzählkunst aufmerksam macht, nämlich sein Eintreten für die Emanzipation der Juden. Schon von Amts wegen war Hebel als badischer Kirchenrat mit diesem Thema befasst. Die Französische Revolution, vor allem aber Napoleon hatte die bürgerliche Gleichstellung der Juden vorangetrieben. Doch auch aufgeklärte Monarchen wie der Habsburger Kaiser Joseph II. hatten sich darum verdient gemacht.

Im Jahr 1807 erkannte ein „1. Konstitutionsedikt“ endlich auch in Baden den Juden die Bürgerrechte zu. Allerdings blieb dies an restriktive Bedingungen geknüpft. Wie auch andernorts wurde die Emanzipation sogleich wieder eingeschränkt und durch eine Fülle von Ausführungsbestimmungen gehemmt. Zudem waren viele Förderer der Judenemanzipation nicht ganz ehrlich. Sie konnten mit dem wirklichen Judentum wenig anfangen und hofften insgeheim, die Integration würde sich als besonders wirkungsvolles Mittel zur völligen Assimilation erweisen. Als gleichberechtigte Bürger würden die Juden schon von ihrer vermeintlich archaischen Religion lassen und sich zu aufgeklärten Protestanten taufen lassen (Johann Anselm Steiger, „Wie man lernt, den Fremden von nebenan zu achten. Johann Peter Hebels beispielhafter Beitrag zur Emanzipation der Juden“, in: Wende-Zeit im Verhältnis von Juden und Christen. Hrsg. von Siegfried von Kortzfleisch, Wolfgang Grünberg und Tim Schramm, EB-Verlag, Berlin 2009).

Hebel unterstützte die Emanzipation der Juden vorbehaltlos, dies aber nicht bloß aus allgemeinen politischen Erwägungen, sondern auch aus einer Haltung persönlicher Frömmigkeit. Von früh auf war er der hebräischen Sprache und dem Alten Testament mit inniger Liebe zugetan. Davon zeugt ein berühmter Satz von ihm, den man gar nicht oft genug zitieren kann: „Was aber den Jesaias betrifft, so behaupte ich nur so viel, daß, wer ihn vom 40. Kapitel an lesen kann, und nie die Anwandlung des Wunsches fühlt, ein Jude zu sein, sei es auch ein Betteljude, der versteht ihn nicht, und so lange der Mond noch an einen Israeliten scheint, der diese Kapitel liest, so lange stirbt auch der Glaube an den Messias nicht aus.“

Für Hebel war das Judentum nicht etwas, was eigentlich überwunden werden müsste. Und für ihn war die Emanzipation nicht einfach der zivilste Weg zu diesem Ziel. Vielmehr beharrte er darauf, dass gerade das alte, arme und fremd erscheinende Judentum einen bleibenden Wert besitze. Von anderen Vertretern der evangelischen Aufklärung unterschied er sich dadurch, dass er einen Sinn und Geschmack für die orientalischen Eigentümlichkeiten der Juden hatte. Er empfand für das Fremde und Befremdliche an ihnen eine viel zu große Neugier und Zuneigung, als dass er das verbreitete Motiv hätte teilen können, das Judentum sei in vermeintlich guter Absicht zu zivilisieren, um es nur umso bruchloser der neuprotestantischen Mehrheitsgesellschaft einzuverleiben.

So griff er in seinen Erwägungen zur Judenemanzipation gerade Negativklischees auf, um sie als Zeichen einer Eigentümlichkeit zu deuten, die es zu achten und zu verstehen gelte. Im sogenannten Betteljuden vermochte er so gegen allen Augenschein den Träger eines unbedingten religiösen Wertes, nämlich ein Glied des Bundesvolkes Gottes, zu erkennen. Und Hebel konnte dies nicht nur theologisch behaupten, sondern auch davon erzählen. Dies zeigt sich in einem Seitenstrang seiner „Kalendergeschichten“. Sie sind volkserzieherisch und erbaulich auf ganz eigene Weise. Sie ermüden nicht durch ein politisch korrektes
Belehrungsbemühen, sondern überwinden den Leser mit echter Erzähllust. Die Stärke dieser Geschichten liegt darin, dass sie eben nicht ein ideales Intellektuellenjudentum vorstellen, im Vergleich zu dem dann das empirische Judentum besonders schroff als rückständig, abergläubisch und moralisch zwielichtig abfiele. Vielmehr erzählt Hebel bewusst nur von den armen Juden, die seine einfachen Leser aus ihrem Alltag kennen konnten. Selbst dort, wo er eine Geschichte von Moses Mendelssohn erzählt, stellt er ihn nicht als „weisen Nathan“ vor, sondern als subalternen Handlungsbedienten.

Dieser erzählerische Zugriff irritiert, hat aber einen tiefen Sinn. Zugleich konnte Hebel dadurch seiner — für einen Prälaten unüblichen — Sympathie für Outcasts aller Art freien Lauf lassen. So erzählt er von „Betteljuden“, geschundenen Vagabunden, liebenswerten Schwindlern und Gaunern, pikaresken Figuren, die sich, ähnlich wie der unsterbliche Zundelfrieder, mit List und Geschick, aber stets ohne Gewalt zu wehren wissen. Es sind wirklich lustige Geschichten, in denen die bornierten Christen von unterjochten Juden mit einem Witz überwunden und beschämt werden
— dies aber so, dass sie am Ende mit- lachen können.

Das zeigt besonders eine Geschichte, die sich heute allerdings noch viel unbehaglicher liest als zu Hebels Zeiten. „Glimpf geht über Schimpf“ erzählt von einem namenlosen Juden, der jede Woche durch ein Dorf gehen musste. Stets beschimpfte ihn die Dorfjugend und rief: „Jud! Jud! Judenmauschel!“ In seiner Not versuchte er einen Kunstgriff. Er schenkte jedem Jungen, der ihn verhöhnte, ein kleines Geldstück. So ging das etliche Male. Und die Kinder begannen sich auf seine Besuche zu freuen und „fingen fast an, den gutherzigen Juden liebzugewinnen“. Dann aber stellte er die Zahlungen ein: „Kinder, jetzt kann ich euch nichts mehr geben, so gern ich möchte, denn es kommt mir zu oft und euer sind zuviel.“ Da wurden die Kinder traurig, und sie sagten: „Wenn Ihr uns nichts mehr gebt, so sagen wir auch nicht mehr Judenmauschel.“ Der Jude antwortete:

„Ich muß mir‘s gefallen lassen. Zwingen kann ich euch nicht.“ Also gab er ihnen kein Geld mehr für ihre Beleidigungen, und „von der Stund an ließen sie ihn ruhig durch das Dorf gehen“. Mit solchen Geschichten versuchte Hebel, eine Erzähl- und Lachgemeinschaft, wie Steiger sagt, zwischen Christen und Juden zu stiften; leider vergeblich. Die Erinnerung daran aber könnte heutige Religionsdialoge mit einer dringend benötigten Prise Humor würzen.

JOHANN HINRICH CLAUSSEN                                pdf zum Download