Presse aktuell 2010


 
Frankfurter Allgemeine vom 12. Mai 2010

Im Namen des Dichters zecht ganz Alemannien

Deutsche Szene: Johann Peter Hebel gibt einen aus    pdf zum Download

Ein Mann, der nur wenige Jahre seiner Kindheit im Heimatdorf der Mutter verbracht hatte, war in der Fremde reich und berühmt geworden, sehnte sich aber immer nach jenem Dorfe zurück, in dem er früh gelernt hatte, Was Armut ist. Als er selbst schon ein alter Mann war, beschloss er, dass nach seinem Tod die elf ältesten und bedürftigsten Dorfbewohner an jedem Sonntag einen Schoppen Wein erhalten sollten. Die Zeche wollte er noch aus dem Grabe zahlen. Aber bevor der Mann starb, ging der Bankier, dem er sein Geld anvertraut hatte, bankrott. Das Vermögen war verloren, die Gläser der Dorfältesten blieben auch am Sonntag leer, und die Jahre vergingen. Unterdessen wurde in Paris König Karl X. gestürzt, die Engländer belagerten Dschalalabad, und die Ackerleute säten und schnitten. Viele Jahre nach seinem Tod erinnerten sich die Leute an den Mann, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben wäre, und begingen an seinem hundertsten Geburtstag ein großes Fest, auf dem auch den elf Dorfältesten aufgetischt wurde. So ist der letzte Wille des Mannes doch noch erfüllt worden. Er lebt dort nicht mehr, und ist dort nicht begraben, doch kehrt er jedes Jahr in sein Dorf zurück.

Die Geschichte des Hebelfestes klingt, als hätte Hebel selbst sie in einer seiner Kalendergeschichten erzählt. Wenige Kindheitsjahre nur hat er in Hausen im Wiesental verbracht, aber seit 150 Jahren feiert das ganze Dorf an jedem 10. Mai den Dichter mit einem Fest, wie es in Deutschland wohl einmalig ist. Die Frauen legen ihre schönsten Trachten an, Festwagen zeigen Szenen und Motiven aus Hebels Gedichten und den Kalendergeschichten, und die Kinder verkleiden sich als Hans und Vreneli, die alemannische Variante von Romeo und Julia. Seit 1861 spendiert die Basler Hebelgesellschaft den Alten Mannen des Dorfes das „Hebelmähli“, ein Mittagessen samt Schoppen im Festzeit. Zwei Weltkriege hat diese Tradition überdauert, und nur ein einziges Mal, nämlich 1945, ist das Hebelmähli bislang ausgefallen. Zwei Jahre später, am 10. Mai 1947, öffnete die Schweizer Regierung erstmals nach Kriegsende die Grenze zu Deutschland, damit die Basler zum Hebelfest fahren konnten.

Das Hebelfest ist ein internationales Dorffest in der Provinz, an dem vier Nationen beteiligt sind, denn auch die alemannisch sprechenden Elsässer und Vorarlberger nehmen teil. Starr ist das Ritual des Festes und groß das Vertrauen in sein Fortbestehen. Morgens um sechs erschüttern Kanonenschüsse den Ort, dann zieht die „Hebelmusik“, eine Blaskapelle, durch die Gassen, und um viertel vor elf werden die Ehrengäste aus Basel zu Fuß vom Bahnhof abgeholt. Dann folgt der Festakt in der ‘Turnhalle. Im Hintergrund zeigt ein gemalter Bühnenprospekt Dorf und Tal, daneben hängt Hebel in 01. Fünfhundert Gäste nehmen unter Basketballkörben Platz. Die besten Schüler und Lehrlinge erhalten Auszeichnungen, den Bräuten des Vorjahres wird eine Brautgabe überreicht. Dann wird der Hebelpreis verliehen.

Der Preis ist vergleichsweise jung, nur halb so alt wie das Fest. Erster Preisträger war 1936 Hermann Burte, ein alemannischer Mundartdichter und glühender Verehrer Hitlers. Vom Ruch des Völkischen hat sich der Literaturpreis lange Zeit nicht befreien können; die später eingeführte Vergabe nach strengen Proporzkriterien, die Autoren aus allen vier beteiligten Ländern gleichberechtigt berücksichtigen sollte, schuf mit der Zeit neue Probleme. Erst in den letzten Jahren war man bestrebt, rein literarische Kriterien anzuwenden, und ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2010, zu Hebels 250. Geburtstag, zeichnet sich ab, welch weitreichende Folgen eine so naheliegende Entscheidung haben kann.

Hebels wohl berühmtestes Gedicht trägt den Titel „Die Vergänglichkeit“, aber gleichwohl haben die Hausener großes Zutrauen in Dauer und Haltbarkeit ihrer Traditionen. Alle 25 Jahre nämlich fällt das Hebelfest besonders üppig aus, dann findet der „Große Festumzug“ statt, mit sechzig Wagen, zahlreichen Trachtengruppen und 15 000 Zuschauern. Mag der Euro wanken und der Klimawandel den Schnee auf dem Belchen schmelzen lassen, kein Hausener zweifelt dran, dass der nächste Große Festumzug im Jahr 2035 stattfinden wird, wie immer mit Vreneli und Zundelfrieder und der Hebelwurst im Festzeit.

Aber wie ist es zu erklären, dass ausgerechnet das Hebelfest nahezu unverändert die Zeiten überdauern konnte, während andernorts Traditionen und Bräuche verschwinden? Macht Hebel immun gegen die Prozesse des sozialen und kulturellen Wandels, immun gegen die Kräfte von Erosion und Beschleunigung?

Im neugestalteten „Hebelhüsli“, wo er bis zum Tod der Mutter 1773 zumindest die Wintermonate verbrachte, wird seit Sonntag der chronologische Ablauf eines Hebelfesttages in einer Collage aus Filmdokumenten dokumentiert, die bis ins Jahr 1935 zurückreichen. Wie im Zeitraffer sehen wir Preisträger der letzten Jahrzehnte um Viertel vor elf aus dem Zug steigen, Albert Schweitzer, Carl Jacob Burckhardt, Martin Heidegger und Robert Minder, Peter Bichsel und zuletzt Arno Geiger. Außer der Kleidung scheint sich nichts geändert zu haben. Wie ist das möglich? Könnte es sein, dass zum Fortbestand dieses scheinbar unabänderlichen Rituals auch ein unabänderliches Bild vom Dichter selbst beiträgt, das seit Generationen weitergegeben wird? Dann drohte jetzt Gefahr im Wiesental.

Schon Goethe bemerkte 1804 in seiner Rezension der zunächst anonym erschienenen „Alemannischen Gedichte“, dass ihr Verfasser das Universum aufs das Anmutigste „verbauere", und konstatierte, dass die Heiterkeit des alemannischen Himmels, die Behaglichkeit der Menschen sowie die „neckische Sprach- weise“ vieles zur erfreulichen Wirkung dieser Verse beitrügen. Goethe erkannte aber auch die literarische Dimension dieser Gedichte, mit denen Hebel seine arme, verlachte Muttersprache ins „Classische“ erhob, indem er Blankverse und Hexameter benutzte. Jean Paul und Canetti, Kafka oder Botho Strauß, sie alle verneigten sich vor Hebel, in dem sie wohl kaum nur den Verfasser behaglicher Landschaftsidyllen und erbaulich- schnurriger Kalenderblätter gesehen haben dürften. Hebel, so formulierte es jetzt Arnold Stadler, ein würdiger, geradezu idealer Hebelpreisträger im Jubiläumsjahr, sei ein Geheimnis, kein Rätsel. Denn Rätsel ließen sich lösen.

Vielen Hebelfreunden ist er wahrscheinlich weder das eine noch das andere, sondern allein ein erbaulicher Mundartdichter, mit dessen Versen sie aufwuchsen wie mit dem Murmeln der Wiese, die dem Tal den Namen gibt. Fünfzig Jahre lang haben die Hausener im Hebelhaus Relikte einer vergangenen Zeit versammelt, bis sie geglaubt haben müssen, dass alles, was im Hebelhaus steht, auch aus Hebels Besitz stammt. „Wo ist Hebels Bett geblieben“, fragt jetzt mancher, wenn er in die renovierten und vollständig neu gestalteten Räume kommt. Dann muss Thomas Schmidt erklären, dass Hebel in dem Bett nie geschlafen hat. Der Leiter der in Marbach angesiedelten Arbeitsstelle für literarische Museen hat dem Haus die Authentizität vorgaukelnde Puppenstubenatmosphäre genommen und sie durch eine moderne Konzeption ersetzt, die den Hausenern einen neuen, facettenreicheren, auch widersprüchlicheren Hebel präsentiert, ohne ihnen die singuläre Geschichte zu nehmen, die diesen Ort und seine Menschen mit Hebel und seiner Dichtung verbindet. In der Geschichte der Dichterverehrung in Deutschland ist Hausen im Wiesental ein einzigartiges literarisches Laboratorium. Zum 250. Geburtstag Hebels beginnt man hier nun, den größten Sohn des Ortes, der freilich in Basel geboren wurde, mit anderen Augen zu sehen. Was daraus folgen mag? Ein vorschnelles Urteil ist in Hausen nicht am Platz.

HUBERT SPIEGEL                   pdf zum Download

Arnold Stadlers Dankrede finden Sie >>HIER<<