Presse aktuell 2010


 
BZ vom 11.5.10

Einer, der nur genau hinschaut

Arnold Stadler, Hebel-Preisträger 2010, lockte viele Zuhörer und Zuhörerinnen ins neue Literaturmuseum in Hausen

Erstmal ein ungewohntes Bild: keine heimelig-rustikale Eckbank mehr, keine Trachtenpuppen mehr. Im frisch renovierten und zum Literaturmuseum umgestalteten Hebelhaus in Hausen las der Hebel-Preisträger 2010, Arnold Stadler, vor dicht gedrängten Zuhörerreihen. Noch "ganz ergriffen" vom Vortrag des Hebel-Gedichts "Die Vergänglichkeit", das er zuvor bei der Einweihung des neu gestalteten Hauses gehört hatte, wollte der Schriftsteller erst einmal "etwas zu Hebel" lesen — was er eigentlich für den Festakt zur Preisverleihung gedacht hat.

Es geht in diesen Reflexionen um die Vergänglichkeit, darum, dass alle sein wollen wie die anderen, dass das Unverwechselbare keinen Marktwert mehr hat, dass alle jenes Leben führen, das von ihnen erwartet wird. Das geht bis zur eigenen Sprache, die den Kindern schon im Kindergarten ausgetrieben wird — "als wäre die Muttersprache keine Sprache, sondern ein Hindernis". Arnold Stadler beschreibt, wie er in Basel vor dem Geburtshaus Hebels steht, dort, wo Hebel "zwischen Rhein und Totentanz, zwischen Fluss und Friedhof" aufgewachsen ist. Und er schätzt seinen Hebel hoch, dessen oftmals ungeschminkte Einsichten so daherkämen, als sei es Zuversicht, und der bei aller Abgründigkeit doch immer einen Boden unter seinen Füßen hat. Stadlers Nähe und Verbundenheit zu Hebel ist stark spürbar, seine Geistesverwandtschaft mit diesem Dichter, der "das Schöne mit dem Wertvollen verbindet. Wie er sagt, was gesagt werden muss", schätzt Stadler an Hebel. Und "dass es ein Glück sei, seinen Hebel zu lesen".

Vieles verbindet den Kleist- und Büchner-Preisträger mit Hebel. Just an Hebels 250. Geburtstag den Hebel-Preis zu erhalten, darüber freue er sich "saumäßig" — um sich in der Sprache seiner Kindheit im Oberschwäbischen auszudrücken. Dann erzählt der 56-Jährige, wie er früh auf die Schönheit der Sprache gestoßen sei, als er als Ministrant die Psalmen hörte. Das habe seine Vorstellung von dem, was Sprache sei, geprägt. Dann greift der vielfach ausgezeichnete Autor zu seinem Roman "Einmal auf der Welt. Und dann so" — einer überarbeiteten und erweiterten Fassung seiner autobiografischen Trilogie "Ich war einmal", "Feuerland" und "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" — und liest daraus eine Seite. Auch in diesem Ausschnitt bringt Stadler wieder das zum Ausdruck, was für ihn Erinnerung, Sprache und Schreiben bedeutet.

Die Auseinandersetzung mit Heimat und Fernweh, die feine Ironie, der schwarze Humor, die Satire, die tragischen und komischen Elemente, die sich in seinen Werken verbinden, all dies kommt auch in der Kürze der Lesung zum Vorschein. Vor allem in der längeren Passage aus "Ausflug nach Afrika". Erzählt wird darin die Geschichte eines klein gewachsenen Mannes, der fast gar nicht von dieser Welt ist, und sich aus seiner engstirnigen Heimat im "schönen Hotzenwald" wegträumt zu Meer, Palmen und Pygmäen. In dem Ausschnitt, den Stadler liest, landet der Ich-Erzähler aber erst mal in Lissabon, der Hauptstadt der Saudade, des Weltschmerzes, und verbringt seine Tage im Portwein-Institut.

Zwischendurch gibt Stadler auch etwas über seine Art des Schreibens preis, etwa, dass sein Roman "eine Folge von nicht gestrichenen Sätzen" sei, wie er leicht ironisch meint. "Ich recherchiere nie für meine Bücher", sagt Stadler, "ich muss nur genau hinschauen." Zum Schluss kommt Stadler wieder zurück zu Hebel, der ein großer Dichter gewesen sei. Noch Hebels Gedicht "Die Vergänglichkeit" eindrücklich im Ohr, liest Stadler den Vergänglichkeits-Psalm in seiner Übertragung — aktuelle und ewig gültige Gedanken über das vergängliche Leben. Wohl wegen der drangvollen Enge — viele Zuhörer mussten stehen — kamen keine Fragen aus dem Publikum, doch beim Signieren konnte man mit dem Hebel-Preisträger ins Gespräch kommen.

Roswitha Frey