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Presse aktuell 2010
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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Mai 2010
Das Genie aus dem Abseits
Von Michael Stolleis
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Auf der geographischen
Linie, die Basel mit Hausen, Lörrach, Freiburg,
Karlsruhe und Heidelberg verbindet, ist seit dem
neunzehnten Jahrhundert viel Kluges,
philologisch Genau- es und Liebevolles über den
großen badischen Dichter Johann Peter Hebel
geschrieben worden. In Basel wurde er 1760
geboren, in Hausen wuchs er auf, in Lörrach gab
er als junger Mann Unterricht, in Freiburg wäre
er einmal fast Stadtpfarrer geworden, in
Karlsruhe machte er Karriere und saß unter Adel
und Exzellenzen, in Heidelberg entsteht heute
die Historisch- Kritische Ausgabe und in
Schwetzingen wurde er 1826 begraben.
Nun wird also in diesem Jahr, am 10. Mai, sein
250. Geburtstag begangen. In Lörrach feiert ihn
der Hebel-Bund, wie alle Jahre, in Stuttgart
bekommt Arnold Stadler den
Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes
Baden-Württemberg, derjenige Schriftsteller
also. der nach Herkunft und Ton diesem Dichter
besonders nahe steht. Dann wird auch an die
lange Kette der Bewunderer Hebels erinnert
werden, die mit Goethe und Jean Paul beginnt und
weiter zu Kafka, Benjamin, Brecht und Bloch bis
zu Canetti und W. G. Sebald reicht. Für die
einen, die dieser Mundart mächtig sind, ist er
die „allemannische Drossel aus dem Schwarzwald“
(Jean Paul) ‚ für die anderen ist er der
unvergessliche Kalenderautor des „Rheinischen
Hausfreunds“ und der Briefschreiber.
Zu dieser allseitigen Erinnerung gehört auch
eine ordentliche neue Biographie. Heide Helwig
hat die eine geliefert, Bernhard Viel die
andere. Beide kennen natürlich die älteren
Biographien, etwa die unentbehrliche von Wilhelm
Zentner (1965), auch die Werkausgaben und die
reiche Sekundärliteratur, aber sie verstecken
diese Kenntnisse in relativ knappen Anmerkungen.
Beide Autoren konzentrieren sich ganz auf die
Lebenslinie dieses scheuen, verschmitzten und
klugen Mannes aus der Provinz, des
pflichtbewussten Pädagogen und leitenden
Geistlichen der badischen Landeskirche, des
politisch vorsichtigen Kalendermachers und des
Dichters, den die Muse 1801/02 intensiv küsste,
aber dann wieder verließ. Das Ergebnis waren die
„Allemannischen Gedichte“, vielfach aufgelegt
und geliebt... Ich getraue mir kein zweites
Bändchen zustande zu bringen. Der erste heilige
Anflug des Genius ist schnell an mir vorüber-
gegangen“ schreibt Hebel schon 1803. Gleich
anschließend aber kam als Auftragsarbeit der
badische Landeskalender „Der Rheinländische
Hausfreund“, den Hebel ab 1807 hauptamtlich bis
1815 betreute. Dieser Tätigkeit verdanken wir
einige Juwelen der deutschen Literatur von
absoluter Reinheit, etwa „Unverhofftes
‘Wiedersehen“ oder „Kannitverstan“, zurecht-
geschliffen aus eher bedeutungslosen Vorlagen.
Nach 1819 versiegte auch dies. Hebel trat an die
Spitze der ab 1821 „unierten“ Landeskirche,
wurde in die Erste Kammer berufen, erhielt
Ehrendoktor und Orden, aber irgendwo in seinem
Innern hockte noch ein koboldartiger
anarchischer und zweiflerischer Geist. eine
unerfüllbare Sehnsucht nach dem einfachen Leben
als Landpfarrer.
Heide Helwig fängt es geschickt an. Sie erzählt
nicht in einer Linie von Geburt bis Tod, sondern
schildert als Exposition zunächst den
geographischen und geistigen Raum dieses Lebens
zwischen Schwarzwald und Schweiz, Elsass und
Bodensee.
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Wie aus
dem Vorsatz, Geschichten für das
einfache Volk zu schreiben, Weltliteratur
hervorging:
Zum 250. Geburtstag von Johann Peter Hebel gibt
es
gleich zwei neue Biographien des Dichters.
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Dort, im „alemannischen“ Dreiländereck, umkreist
sie dann den Komplex der Dialektdichtung, bei
der nicht nur Herders Suche nach der Ursprache
und seine „Stimmen der Völker“, sondern auch der
platt- deutsch dichtende Johann Heinrich Voß,
der Homer-Übersetzer, eine Rolle spielten. Erst
danach schreibt sie das Leben Hebels, von den
schwierigen Anfängen des bald verwaisten Knaben
von der Hausener Dorfschule bis zum
Schulabschluss in Karlsruhe und zur
Mitgliedschaft in der ‚.Lateinischen
Gesellschaft“. Die dort gehaltenen vier Reden
sind jetzt von Wilhelm Kühlmann zweisprachig
ediert und musterhaft kommentiert worden.
Es geht weiter über das Theologiestudium in
Erlangen, die nächsten Stationen in Hertingen
und Lörrach, den vergnügten Kult des
Proteus-Ordens rund um den mythischen Berg
Belchen, und schließlich nach Karlsruhe, das ihn
mit Ämtern und Ehren festhielt. Weitere Kapitel
gruppieren sich um Hebels Naturerlebnisse und
Naturverständnis, um sein Verhältnis zur
Geschichte und zur aktuellen Politik,
insbesondere um den verehrten und gefürchteten,
dem Haus Baden nahestehenden Napoleon, sowie um
die Zeit der „Kalendergeschichten“, die
Tätigkeiten als Theologe und Ministerialrat.
Dass Hebel bis an sein Lebensende Napoleon für
eine weltgeschichtlich überragende Figur hielt,
verband ihn mit Goethe — Gustav Seibt hat
darüber 2008 ein kluges Buch geschrieben. Aber
das herzliche Mitleid mit den vom Kriegselend
malträtierten einfachen Leuten trennte Hebel
wieder von dem Großen in Weimar.
Ein vergnügliches eigenes Kapitel bekommen bei
Helwig die Geselligkeit in Karlsruhe, die
Stammtische, die Rätsel- und Charadenmanie, die
Theaterabende, die Bälle und sonstigen
Festlichkeiten bei Hofe, aber auch die zarten
platonischen
Neigungen zu der Brieffreundin Gustave Fecht im
Pfarrhaus in Weil, zu Sophie Haufe in Straßburg
und vor allem zu der Schauspielerin Henriette
Hendel-Schütz, einer Art Lady Hamilton ihrer
Zeit, die den notorischen Junggesellen in
gehörige Turbulenzen bringt. Sich ernsthaft
binden wollte dieser Zauderer nie. Sein reicher
Briefwechsel zeigt ein Hin und Her von
geträumten Lebensplänen, während der Träumer
selbst am Schreibtisch Akten bearbeitete. Von
fern lässt der Versicherungsangestellte Franz
Kafka grüßen.
Das Buch von Heide Helwig schließt fast elegisch
und etwas mäandernd mit einem Kapitel über
Hebels oft behandelte positive Stellung zum
Judentum und zum Islam. Wie vielen seiner
Zeitgenossen wurde ihm das „Morgenland“ zur
Ideallandschaft des Ursprungs der Menschheit.
Hier verbanden sich der kundige Hebraist, der
eifrige Leser von Reiseberichten und der
volkspädagogische Theologe zu einer
menschenfreundlichen Person. Hebel, dem es auf
konfessionelle Spitzfindigkeiten nicht ankam,
war deshalb auch besonders gekränkt, als der
schwache Großherzog Karl es während des Wiener
Kongresses zuließ, dass der „Rheinländische
Haus- freund von 1815“ wegen einer Lappalie
zensiert wurde.
Helwigs Buch informiert über all dies kundig und
gibt ein von Pedanterie freies Gesamtbild für
einen größeren Leserkreis. Neues zur
Hebel-Forschung bietet sie allerdings nicht. Die
philologische Kleinarbeit an Hebels Quellen oder
kriminalistischer Spürsinn scheinen ihr eher
fernzuliegen. Dabei wäre gerade der genaue
Vergleich des aus Zeitungsmeldungen, Schwank-
und Anekdotensammlungen geschöpften Rohstoffs
mit den im Kalender publizierten Texten der
einzige Weg, um dem Dichter über die Schulter zu
schauen. Selbst wo eine Geschichte („Eine
sonderbare Wirtszeche“) genau auf den 17. April
1805 datiert und in Segringen bei Dinkelsbühl
lokalisiert scheint, steckt ein seit dem
sechzehnten Jahrhundert überlieferter Scherz
dahinter. Auch dass die Geschichten ‚.Der
Prozess ohne Gesetz“, ‚.Brotlose Kunst“ oder
„Die Raben“ vermutlich einer Vorlage von 1803
„Der junge Antihypochondriakus oder Etwas zur
Erschütterung des Zwerchfells und zur
Beförderung der Verdauung“ des Erfurter Druckers
und Verlegers Georg Adam Keyser entstammen, wäre
wichtig. Heinrich von Kleist
("Franzosen-Billigkeit“) und Hebel ("Schlechter
Lohn“) schöpften einmal aus derselben Quelle —
und beide machten meisterhafte Kurztexte daraus.
Das wäre schon wert, notiert zu werden. Oder
dass des Adjunkts „Standrede über Maß und
Gewicht‘, die hier gar nicht erwähnt wird, eine
der wichtigsten innenpolitischen Aufgaben Badens
nach 1803 popularisiert, erfährt der Leser
nicht. Gleichwohl wird Heide HeIwig diesem
genialen Gelegenheitsschriftsteller und
Weltweisen gerecht, indem sie ihn und seine
psychischen Dispositionen ernst nimmt, sich in
seine Zweifel und Obsessionen einfühlt und ihn
in das zwischen Aufklärung und Biedermeier
changierende Feld einordnet. ‚Genie kann im
Abseits gedeihen“, sagt sie mit Recht, und „aus
dem Vorsatz, fürs einfache Volk zu schreiben,
kann Weltliteratur hervorgehen.“
Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht
dasselbe. Wie unterschiedlich Biographien
ausfallen können, wenn sie dasselbe bestens
erforschte, ja überforschte Material zur Hand
nehmen, zeigt der Vergleich Helwigs mit der
Biographie von Bernhard
Viel. Auch er folgt der Lebenslinie Hebels,
nimmt sich aber schon fast 150 Seiten Platz, um
den Weg des begabten Jungen durch die Schulen
bis nach Karlsruhe um 1800 und zu den „Allemannischen
Gedichten“ zu erzählen. Ebenso werden die
Details des Sterbens und der Beisetzung genau
berichtet. Aber die wichtigsten Zwischenstücke,
der Alltag im Gymnasium, der Amtsbetrieb der
Badischen Landeskirche und die parlamentarische
Arbeit, die natürlich benannt werden, bleiben
doch unscharf in den Konturen. Auch scheint der
Respekt vor der Psychoanalyse den Autor zu
motivieren, der Mutterbindung Hebels eine
übermächtige Rolle zuzuschreiben, um Hebels
zugleich bescheidene und selbstbewusste Rolle in
der Welt und vor allem sein scheues Verhältnis
zu Frauen zu erklären. Wir wissen darüber zu
wenig, dank Hebels Diskretion oder
Schamhaftigkeit. Überhaupt wird viel spekuliert,
„was wäre gewesen, wenn…“; die Worte „dürfte“,
„könnte“ oder „sollte“ fallen häufig. Viel
schmückt gern ‚aus, wo die Quellen nicht
hinreichen. Umgekehrt kommt die eigentliche
genaue Betrachtung der Texte und ihrer Quellen
verhältnismäßig zu kurz, stärker noch als bei
Heide HeIwig. Von den Kalendergeschichten wird
nur ‚.Unverhofftes Wiedersehen“ breit
dargestellt und mit einer Kalendergeschichte von
Oskar Maria Graf aus dem Jahr 1926 verglichen.
Angehängt werden kurze Betrachtungen über die
Gaunerstückchen von Zundelfrieder, Zundelheiner
und dem Roten Dieter. Das ist angesichts des
Reichtums des „Rheinländischen Hausfreunds“ an
Erzählkunst und motivischen Reichtums eindeutig
zu wenig. Immerhin: Die ‚.Biblischen
Geschichten“. Hebels Alterswerk, werden etwas
eingehender gewürdigt.
Am Ende behält doch Wilhelm Zentners Biographie,
trotz ihres altertümlichen Duktus, ihren Rang.
Aber in jedem Fall sind wir im Hebel-Jahr 2010
bestens ausgestattet mit biographischer
Literatur, um uns hineinzufinden in die Existenz
dieses unheroischen, undogmatisch frommen
Zweiflers und Sehnsüchtigen, des Pädagogen und
badischen Kirchenmannes, aber vor allem des
unvergesslichen Gelegenheitsautors. Von der
Biographie. die nur ein Mittel ist, aber auch
Kunstwerk sein kann, führt der Weg zu den Texten
selbst. Artikel zum Download
Heide Helwig: „Johann
Peter Hebel“.
Biographie. Hanser Verlag, München 20Q. 377 S.,
geb., 24,90
Bernhard Viel: „Johann Peter Hebel oder Das
Glück der Vergänglichkeit“. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2010. 296 5., geb.,
22,95 €.
Wilhelm Kühlmann: „Facetten der Aufklärung in
Baden. Johann Peter Hebel und die Karlsruher
‚Lateinische Gesellschaft“. Mit einer
zweisprachigen Edition von Hebels studentischen
Reden (1776/77), übersetzt von Georg Burkard.
Rombach Verlag, Freiburg 2009. 164 S., geb.,
39,80€.
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