Presse aktuell 2010


 
Die Zeit vom 6.5.10

Kleists älterer Bruder

Johann Peter Hebel, der wunderbare, rätselhafte Autor der „Kalendergeschichten“ wurde vor 250 Jahren geboren. Zwei neue Biografien versuchen, ihn besser zu begreifen.

VON ULRICH GREINER                                           Artikel zum Download

Johann Peter Hebel, eines armen, früh gestorbenen Leinewebers Sohn aus Basel, kann jedem seinesgleichen zu einem lehrreichen Beispiel dienen, wie ein junger Mensch, dem es ernst ist, etwas Rechtes zu werden, trotz allen Hindernissen seinen Zweck durch eigenen Fleiß und Gottes Hilfe erreichen kann. Hebel wünschte von früher Jugend an, ein Pfarrer zu werden, jedoch verlor er die Mutter, als er dreizehn war. Ich weiß einen, der hätte die Flinte ins Korn geworfen. Hebel nicht also. Begabt mit einem kleinen Erbe, welches der Vormund verwaltet, wird er ein hervorragender Schüler, studiert Theologie in Erlangen, kommt zu einer Hauslehrerstelle, wird Hilfsprediger in Lörrach. Ich weiß einen, der wäre damit zufrieden gewesen. Hebel nicht also. Er bewirbt sich, da ihm ein Pfarramt nicht zuteil wird, um eine Lehrerstelle, wird Diakon am Gymnasium in Karlsruhe, schließlich Direktor, Professor, Prälat der Evangelischen Landeskirche. Ich weiß einen, der wäre damit zufrieden gewesen. Hebel nicht also. Er schreibt die Allemannischen Gedichte (1803), die Goethe und Jean Paul begeistern, sowie seine berühmten Kalendergeschichten. Hier war er nun in seinem rechten Element, an der reichen Quelle, wo er seinen lang gehaltenen Durst nach Witz und Poesie befriedigen konnte, und wurde zu einem, den das badische Land verehrt wie keinen Zweiten. So kam es, dass Hebel kein Pfarrer, aber einer der größten deutschen Dichter wurde. Merke: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Hier aber hat der Himmel eine Ausnahme gemacht.

So könnte man Hebel imitieren, und so hat er das Leben des Tierarztes Jakob Humbel erzählt, als wäre es sein eigenes, als Beispiel dafür, wie man mit Fleiß und Geduld sein Glück macht. War Hebel glücklich? Als Dichter schon und erfolgreich zudem. Der Badische Land-Kalender, ein von der gräflichen Behörde herausgegebenes Jahrbuch, litt an Leserschwund, und als Hebel 1807 zum Redakteur ernannt wurde, verdoppelte der Rheinländische Hausfreund, wie er jetzt hieß, seine Auflage auf mehr als 40 000. Die bekannteste, die schönste Erzählung unter den rund 350 Glossen, Unterweisungen, Rätseln und Geschichten ist immer noch jene, die so beginnt: »Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und Gundelfingen so gut als in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umweg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit.« Der Mann staunt über ein wunderschönes Palais, fragt einen eiligen Passanten, wem das Haus gehöre, und erntet die schlecht gelaunte Antwort: »Kannitverstan.« Dasselbe hört er, als er im Hafen nach dem Empfänger einer kostbaren Schiffsladung fragt. Dieser Herr Kannitverstan, denkt er, muss ein unermesslich reicher Mann sein, und es heißt: »Er stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Teufel sei unter so viel reichen Leuten in der Welt.« Da begegnet ihm ein prachtvoller Leichenzug. Er fragt, wer da gestorben sei: Kannitverstan. »Da fielen unserm guten Duttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. Armer Kannitverstan, rief er aus, was hast du nun von allem deinem Reichtum?«

Durch den Irrtum zur Wahrheit — das war Hebels Hoffnung, aber er war hellsichtig genug, um zu begreifen, dass sie sich nicht immer erfüllt. »Oft sieht die Wahrheit wie eine Lüge aus«, heißt es einmal. Und als er, wie er es jedes Jahr tut, seinen Bericht über die Weltbegebenheiten gibt, schreibt er: »In der Welt sieht es kurios aus. Gestern so, heute anders, und wer weiß, was morgen kommt? Der Friede geht schwanger mit dem Krieg, der Krieg gebiert wieder den Frieden, und ist nicht immer gut, dabei Gevatter zu stehen. Wohl dem, der von weitem zuschauen kann, wie es manchmal drunter und drüber geht, und muß nicht dabei sein, wenn die langen Messer dreinhauen.« Der Trost, den er sich und seinen Lesern spendet und am Beispiel der Welt der Natur und der Planeten vorführt: »Die größte Weisheit verratet sich in der einfachen und natürlichen Einrichtung der Dinge«, dieser Trost scheitert an der Bosheit der Menschen.

Im Hausfreund von 1810 steht: Wie eine greuliche Geschichte durch einen gemeinen Metzgerhund ist an das Tageslicht gebracht worden. Sie handelt davon, wie ein Ehepaar einen Metzger seines Geldes wegen ermordet und den unwillkommenen Zeugen, ihr eigenes Kind, gleich mit. »Der Hund des ermordeten Metzgers witterte, während das Kind geschwind in den Backofen gesteckt wurde, die Spur seines Herrn wieder auf, schnauft an der Stalltüre, scharrt an der Haustüre und merkt, hier sei etwas ungerades vorgefallen.« Die Täter werden erwischt: »Sechs Wochen darauf wurden sie gerädert und ihre verruchten Leichname auf das Rad geflochten, und die Raben sagen jetzt >Das Fleisch schmeckt gut.<«

Der Blick ins Ungeheuerliche, die Unerbittlichkeit der Wahrnehmung, die harte Lakonie der Sprache: all das erinnert an den jüngeren Heinrich von Kleist, und geradezu Kleistisch ist auch der Witz jener Geschichte, da ein Herr und sein Bedienter sich derart betrinken, dass sie ins selbe Bett steigen, im jeweils anderen einen Einbrecher vermuten und sich fast zu Tode prügeln. Oder die beiläufige Bemerkung: »In England ist das Hängen nicht so schimpflich wie bei uns, nur tödlich.« Und der Witz der Geschichten vom Zundelfrieder widerlegt alle frommen Ratschläge, um die der Hausfreund selten verlegen ist. »Der Zundelfrieder«, so schreibt Hebel listig, »stiehlt nie aus Not oder aus Gewinnsucht, sondern aus Liebe zur Kunst und zur Schärfung des Verstandes.« Dieser Verstand gipfelt in jener das Theater des Absurden streifenden Szene, da der gesuchte Spitzbube nachts aus der bewachten Stadtmauer hinauswill und den Wächter anruft: »Wer da!«, worauf jener, von dem Rollentausch überrumpelt, zurückruft: »Gut Freund!«, und ihn durchlässt.

Wer war dieser seltsame Hebel? Zeitgenossen nannten ihn »gutmütig und schalkhaft« oder »kindlich und schlicht«. Wer er wirklich war, das haben auch seine neuen Biografen kaum herausgekriegt. Das ist nicht ihre Schuld, denn Hebel hat sich nie in die Karten blicken lassen, er hat sich verborgen, auch vor sich selber. Die Biografie von Bernhard Viel erzählt anschaulich und angenehm lesbar viel von dem, was frühere Biografen schon herausgefunden hatten. Seine These, im jungen Hebel, der das qualvolle Sterben der Mutter erleben musste, sei ein Trauma zurückgeblieben, das Ursache geworden sei für seine Unfähigkeit, sich Frauen zu nähern, hat manches für sich, aber näher belegbar ist sie nicht. Bernhard Viel führt das großartige Gedicht Die Vergänglichkeit an, den Dialog zwischen einem Vater und seinem Sohn über die Hinfälligkeit aller Dinge, eigentlich eine schwarze Apokalypse, die just in jener Gegend spielt, wo Hebels Eltern starben. Was Hebel wirklich fühlte, wie er wirklich war, werden wir aus den Lebenszeugnissen wohl nie herausfinden.

Die Biografie von Heide Helwig ist interessanter, weil sie den Lebensumkreis gründlich recherchiert und subtile Einblicke bietet, sie leidet aber darunter, dass die Autorin es nicht über sich bringt, der Reihe nach zu erzählen, sodass der Leser oftmals das Zweite nicht begreift, weil das Erste noch nicht behandelt wurde. Zu der merkwürdigen Tatsache, dass Hebel den von ihm verehrten Jean Paul, der einige Wochen in Heidelberg weilte, nicht besucht hat, obwohl das von Karlsruhe aus leicht möglich gewesen wäre, teilt sie eine interessante Überlegung mit: »Es gibt Menschen, die ihre Wünsche so lange in tatsächliche und präsumptive Hindernisse einwickeln, bis nichts mehr von der ursprünglichen Form zu erkennen ist. Zudem ist ein Treffen mit Unbekannten, Halb-Bekannten an sich ein heikles Unternehmen, Geselligkeiten entfalten ihre eigene, unvorhersehbare Dynamik, die nicht selten allerhand Missbehagen bereithält. Wenn man es nur lange genug bedenkt — und genau das hat Hebel vermutlich getan —‚ dann ist ein solches Treffen ein kommunikatives und menschliches Risiko, dem man sich nicht leichtfertig aussetzen darf« Das ist schön gesagt und trifft unserer Hebel — vermutlich.

Die Frau, der Hebel am nächsten stand und der er bis zu seinem frühen Ende (er starb 1826 an Krebs) innige Briefe geschrieben hat, war Gustave Fecht. Sie war in seinem Alter, sie war frei, er aber scheute die Nähe. 1796 schreibt er: »Mein Gemüth ist Ihnen nie näher, als wenn ich weit von Ihnen bin, und ich habe immer etwas mit Ihnen zu plaudern. Bis ich auf einmal hinaufkomme, alsdann hab ich nichts.« (»Hinaufkomme« — damit ist das Oberland gemeint.) Dass Hebel mit Gustave umso besser reden kann, je weiter sie ist, dies erinnert Heide Helwig an den Hebel-Bewunderer Kafka und seine Beziehung zu Felice Bauer.

Hebel war im Grunde wohl ein Melancholiker der sich in den Witz rettete; ein Pessimist, der, da ihm das Rätsel des menschlichen Lebens unlösbar schien, Versrätsel und Knobelaufgaben liebte; ein Ambivalenzkünstler, der die Widersprüchlichkeit des Daseins bis in die Sprache hinein aufspürte, wie in dieser kürzesten Kalendergeschichte: »Ein Büblein klagt seiner Mutter: >Der Vater hat mir Ohrfeige gegeben.< Der Vater aber kam dazu und sagte: >Lügst du wieder? Willst du noch eine?<        

Johann Peter Hebel: Die Kalendergeschichten
Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinländischer Hausfreund; hrsg. von Hannelore Schlaffer und Harald Zils; Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010; 847 S., 15,40 €