Presse aktuell 2010


 
Zeitzeichen vom März 2010

Gott wirkt durch eine Laus
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Eine menschenfreundliche Theologie prägt die Werke Johann Peter Hebels

UWE HAUSER

Vor zweihunderfünfzig Jahren, am 10. Mai 1760, wurde Johann Peter Hebel in Basel geboren. Uwe Hauser, Schuldekan im südbadischen Müllheim, stellt den Theologen Hebel vor, der bis zu seinem Tod am 22. September 1826 leitender Geistlicher der badischen Landeskirche war.

 

„Carlsruhe ist noch so schlimm als mans verschreit“, schreibt Johann Peter Hebel am Anfang des Jahres 1810 an seinen Straßburger Freund Christof Gottfried Haufe. Die knapp hundert Jahre zuvor gegründete Residenz genießt den Ruf, Hauptstadt eines kleinen aufstrebenden Duodezfürstentums zu sein, das es zum Großherzogtum gebracht hat. Hebels Kritik zeigt seine Art: mehr verschweigend als sagend, mehr andeutend als aussprechend versucht er den Menschen beizukommen. Seine Ironie wird nie verletzend, sein Humor wirkt nie kränkend, niemand wird bloßgestellt, er ergötzt sich nicht auf Kosten anderer. Denn seine Ironie wurzelt im biographisch-theologischen Mutterboden.

Warum dies so ist? Um dies zu verstehen, müssen wir tief in seine Lebensgeschichte hinabsteigen.

Schon mit „etlichen“ dreizehn Jahren verliert er, der schon kurz nach seiner eigenen Geburt Halbwaise wurde, auch noch die geliebte Mutter. Früh schon macht Hebel die bittere Erfahrung: Die hier auf der Erde verbrachte Lebenszeit ist vorläufig, geliebte Menschen sterben, der Lebensfaden bricht ab.

Aber sein Lebensgefühl gründet nicht im Vergänglichkeitsgefühl des Barock und bleibt auch nicht darin stehen. Nein, Hebel hat durch den festen Glauben seiner Mutter schon früh gelernt, die Vorläufigkeit der Existenz weder resignativ hinzunehmen, noch in ein übersteigerstes carpe diem umzusetzen, sondern im Hier und Jetzt zu leben, im Angesicht von Gottes kommender, neuer Welt. Und Ironie ist die Umsetzung der theologischen Erkenntnis über die Vorläufigkeit irdischer Existenz in die Sprache von Kalendergeschichten und Gedichten. Ironie und die Poesie brechen die Härte der Gegenwart. Sie lassen aufatmen, da es in den kleinen Dingen des Alltags nicht immer um das Letzte geht.

Wenn Johann Peter Hebel etwas abgeht, dann ist es Verbissenheit. Er ist im besten Sinne des Wortes leicht, ohne je seicht zu werden. Seine Geschichten kommen wie selbstverständlich daher und sind voller Tief- und Hintersinn. Und als guter Pädagoge weil er das mit

dem relativierenden Sinn gegenüber der Allmacht der Gegenwart zu kombinieren und mit einem gerüttelten Maß an Humor zu würzen.

Hebel hat in drei Textgattungen am stärksten weitergewirkt: Die stärkste Verbreitung fanden seine Kalendergeschichten, gefolgt von seiner biblischen Geschichte und den mit intensivem Lokalkolorit ausgestatteten und später leider nur noch im alemannischen Sprachraum rezipierten „Alemannischen Gedichte“, die 1803 zum ersten Mal in Karlsruhe erschienen.

Hebels Theologie ist in allen drei Gattungen breit angelegt. So kann er es wagen, den Kosmos, Sonne, Mond und Sterne seinen badischen Land(s)leuten verständlich zu machen und sie theologisch zu deuten. Dabei ist Hebel kein Physikotheologe, der glaubt (und diesem Glauben scheinen bis heute noch einige theologische „Designer“ anzuhängen), aus der Natur direkt auf den Schöpfer zurückschließen zu können. Wohl ist ihm die Natur ein „großes Buch über die göttliche Allmacht“. Doch geschrieben ist es in „arabisch, man kann es nicht verstehen, wenn man keinen Dolmetscher hat“. Und als Dolmetscher dient Hebel die biblische Tradition. Sie ist die Brille, mit deren Hilfe er die Welt nicht allein rational

erkennt, sondern deutet, so dass sie im eigentlichen Sinne „verstanden“ werden kann.

Gott wirkt nicht nur als Schöpfer der Welt. Er ist eben nicht nur Uhrmacher, wie die Deisten glauben. Gott ist vielmehr auch tätig als Bewahrer des Lebens und Begleiter durch die Untiefen menschlicher Existenz. Vom prallen, vollen Leben ist in allen Kalendergeschichten die Rede. Dort wirkt Gott, wie die Geschichte „Dankbarkeit“ zeigt: Ein Matrose muss sich mitten im Getümmel der Schlacht von Trafalgar wegen einer Laus kratzen. Um das Tierlein zu töten, bückt er sich und entrinnt so einer Kanonenkugel. Ja, die erhaltende und bewahrende Kraft Gottes ist immer im Werk. Und wenn es sein muss, bedient er sich dazu einer Laus.

Solche Erkenntnisse werden nicht pedantisch und rechthaberisch vor dem Leser ausgebreitet. Sie werden vielmehr fein ziseliert, kurz und knapp, um niemanden zu ermüden, als „Lockspeise“ für den Leser ausgelegt. Denn gute Predigten nützen nicht nur, sondern — wie Hebel von Horaz wusste — erfreuen auch. Als der Matrose die Laus mit zarter Hand absetzt, gibt er ihr noch den Rat mit, sich nicht noch einmal erwischen zu lassen. Es könnte ihr sonst das Leben kosten. Ob er hier zu sich selbst gesprochen hat?

Theologie ist Anregung zum Nach- und Weiterdenken — wie könnte es bei Hebel auch anders sein, da er ja ein Kind seiner Zeit, der Spätaufklärung, ist. Aber Vorsicht mit allzu wohlfeilen Zuordnungen. Hebel ist kein Freund der geschliffenen philosophisch-theologischen Abhandlungen, der intellektuell zugespitzten Formulierungen. Zur Niederschrift eines eigenen Katechismus konnte er sich erst spät entschließen. So spät, dass das Werk erst posthum erschien. Für die Theologie gilt wohl auch, was er 1797 über die Schriften des großen Denkers aus Königsberg bekennt, dessen „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ einige Jahre zuvor erschienen war: „Ich hab angefangen die Kantische Philosophie zu studiren auf Anrathen eines sehr gelehrten Ungarn, der sich hier aufhält, und ließ es nun wieder bleiben auf Anrathen Meiner.“ In geschliffenen dogmatischen Formulierungen kommt Hebels Theologie nicht daher. Und sie lässt sich auch nicht pressen, obgleich Hebel die lateinische Sprache mehr als zur nur zur Verfügung stand, wie seine Reden für die Markgräfliche Lateinische Gesellschaft in Karlsruhe am Ende seiner Schulzeit verraten.

 

Hebel hatte einen Hang zum Konkreten, zu den kleinen Dingen und kleinen Leuten.

 

Die Festlegung der theologischen Gedanken in festgefügte Kategorien galt nicht nur als Produkt einer überwunden geglaubten lutherischen Orthodoxie. Sie widersprach Hebels Erfahrungen, auch seiner Gotteserfahrung. Er war eben der Sohn „von armen, aber frommen Eltern‘. Diese Frömmigkeit, die zeitgemäß durchaus als Rechtschaffenheit zu verstehen ist, hat er sich Zeit seines Lebens bewahrt. Er hatte schon früh unterschiedliche Welten kennen gelernt: „Ich habe die Hälfte der Zeit in meiner Kindheit bald in einem einsamen Dorf, bald in den vornehmen Häusern einer berühmten Stadt zugebracht. Ich habe früh gelernt, arm sein und reich sein.“ Sein Hang zum Konkreten, Einzelnen, den kleinen Dingen und Leuten, hat sicher auch biographische Gründe. Oder um es präziser zu sagen, sie fiel mit dem Gefälle der biblischen Texte zusammen. Und Hebel blieb dieser Linie sein Leben lang treu. Im April 1809 schreibt er an Friedrich Wilhelm Hitzig, den engsten Freund: „Unser dermaliger philosophischer Gott steht, fürchte ich, auf einem schwachen Grund, nemlich auf einem Paragraphen, und seine Verehrer sind vielleicht die thörichtesten Götzendiener, denn sie beten eine Definition an, und zwar eine selbstgemachte. Ihr Gott bleibt ewig ein Abstraktum und wird nie concret.“

 

Als Moralist verkannt

 

Hebels Gottesvorstellung ist dagegen immer konkret. Nichts ist ihm so fremd wie der „angetaufte und angepredigte Glaube“, der im Unbestimmten bleibt. Das ist die Seite des Theologen Hebel, die später so hemmungslos ausgebeutet werden konnte, um ihn zum Heimatdichter zu machen. Die Anekdoten und Schwänke, die Form, in denen seine Kurzpredigten niedergeschrieben waren, wurden für die Sache genommen. So musste herauskommen, was man hineintat: Hebel der Moralist, der Oberlehrer, der harmlose Geschichtenschreiber. Die feine Brechung, die leicht erhobene Stimme mit der hier gesprochen wurde, wurden ignoriert und nur der behagliche biedermännisch-biedermeierliche Dichter blieb zurück. Aber Hebel kommt nie mit dem moralischen Zeigefinger daher, allenfalls mit dem pädagogischen, wie ein berühmtes Bild von ihm und Elisabeth Baustichler aus dem Jahre 1814 zeigt. Das Seinige ist der gute Rat, das hilfreiche Wort, das sich nie aufdrängt und den anderen zum Nach- und Mitdenken einlädt und um Einverständnis bittet.

Hebel will den Leser einladen, locken, damit er das volle bunte Leben im Licht der Schrift entdeckt, deutet, mit Hilfe des Glaubens versteht. Die Theologie ist eben eine ungemein praktische Wissenschaft. Im Alltag, im Kleinen und Unscheinbarsten, soll Gott erkannt werden. Und damit geht Hebel weit über die Grundgedanken der gängigen Aufklärungstheologie hinaus. So kommen in seinen Kalendergeschichten kleine Diebe, aber immer mit Geist, eingebildete Amtleute, meist ohne denselben, kluge Kinder, noch klügere Juden und allerlei Handwerksburschen vor. Die Geschichten spielen im öffentlichen Raum, auf der Straße oder in Wirtshäusern. Der Badische Landkalender und spätere Rheinländische Hausfreund, den Hebel ab 1807 redigierte, wurde unter seinen Händen zu einer Art intrinsischem Katechismus. Aus der Fülle der Beispiele sei die 1819 erschienene Kalendergeschichte „Das Advokaten-Testament“ herausgegriffen:

„Ein Advokat, der am Ende seines Lebens fast eine Unruhe des Gewissens darüber empfand, daß ihn sein Beruf so reich gemacht hatte, stiftete sein ganzes schönes Vermögen in das Narren- oder Tollhaus. Aus Achtung für so manchen verständigen und rechtlichen geneigten Leser der aus rechter Oberzeugung und Pflicht, in einen Prozeß verwickelt sein kann, will der Hausfreund nicht verraten, was der Advokat für eine Beruhigung darin gefunden habe. Auch kann sich der Advokat geirrt haben, aber er meinte wenigstens, es sei billig.“

Dürfen wir die Gedanken des Herrn Advokaten vorsichtig ergänzen? Es könnte sein, dass er bald vor einem Richter stehen wird, der über sein Wirken auf Erden Rechenschaft fordert. Ganz sicher scheint sich der Advokat dessen allerdings nicht zu sein. Wie im biblischen Gleichnis vom „ungerechten Haushalter“ versucht der Advokat daher kurz vor Toresschluss noch etwas gut zumachen. Was aber hat er sich dabei überlegt, als er alles dem „Narren- oder Tollhaus“ stiftete? Nebenbei sei bemerkt, dass 1784 im Wiener Allgemeinen Krankenhaus der erste „Narrenturm“ eingerichtet worden war, der eine erste Verbesserung für psychisch Kranke mit sich brachte. Richtet sich die Botschaft des Advokaten demnach an die Menschen: Vor Gericht verteidigte ich lauter Narren und Toren. Sie haben mich in ihrer Torheit reich gemacht. Aber sie haben nicht begriffen, was sie taten. Aber wie dem auch sei, jetzt soll es wenigstens den anderen, den Toren, die unter schlimmen Umständen leben, zu gute kommen. Oder richtet sich die Botschaft gar an den letzten Richter, gnädig mit ihm zu verfahren, da alle mit denen er zu tun hatte, nur Narren und Toren waren, und er deswegen für seine Vergehen Strafoder gar Narrenfreiheit genießen sollte?

Biblische Traditionen, jesuanische Gleichnisse, paulinische Grunderfahrungen und eschatologische Gesamt- schau fließen hier ineinander und regen den Leser an, sich klar zu werden, wie er selber über das eigene Leben und das letzte Gericht denkt. Und am Ende bringt Hebel auch das mögliche Irren des Advokaten, und damit die Infragestellung der irdischer Rechtssprechung ins Spiel. Aber selbst wenn der Advokat irren sollte mit seiner Einschätzung, dass die Leute, die vor Gericht gehen, Narren sind, betrachtet er es als „billig“, sprich angemessen, dass der Nachlass den „geringsten Brüdern“ Christi im Tollhaus zugute kommt.

Theologie ist bei Hebel in die Geschichten eingeschmolzen worden. Auch die Auferstehung und das Gericht stellt er sich konkret und scheinbar kindlich naiv vor. Das Wiesental, in dem er aufwuchst, ja der ganze Südschwarzwald ist der Schauplatz des größten eschatologischen Gedichtes, „Die Vergänglichkeit“, das im 19. Jahrhundert geschrieben wurde. Der Belchen kann ihm „die erste Station von der Erde zum Himmel“ sein, „die zweite im Mond“ und die „dritte auf dem Morgenstern“. Hebel vertraut dabei nicht einfach dem Verstand, so sehr er den Leuten — wann wäre dieser Satz je falsch gewesen — nahe legt, denselben einzusetzen, aber ebenso sehr Herz und Gemüt, ohne sentimental zu werden. Und alles ist mit leichter Ironie versehen, bleibt in der Schwebe. Ob im Großen oder im Kleinen, dem Theologen Hebel geht es mitfühlend um verstehendes Deuten und deutendes Verstehen auf dem Hintergrund biblischer Überlieferung. Auch darin ist und bleibt er ein menschenfreundlicher Theologe, dessen Theologie in der neutestamentliche Grundaussage wurzelt, dass uns in Christus „die „Menschenfreundlichkeit Gottes“ erschienen ist.

 

INFORMATIONEN

www.hebeljahr2010.de