Vor zweihunderfünfzig Jahren, am
10. Mai 1760, wurde Johann Peter Hebel in Basel
geboren. Uwe Hauser, Schuldekan im südbadischen
Müllheim, stellt den Theologen Hebel vor, der
bis zu seinem Tod am 22. September 1826
leitender Geistlicher der badischen Landeskirche
war.
„Carlsruhe ist noch so
schlimm als mans verschreit“, schreibt Johann
Peter Hebel am Anfang des Jahres 1810 an seinen
Straßburger Freund Christof Gottfried Haufe. Die
knapp hundert Jahre zuvor gegründete Residenz
genießt den Ruf, Hauptstadt eines kleinen
aufstrebenden Duodezfürstentums zu sein, das es
zum Großherzogtum gebracht hat. Hebels Kritik
zeigt seine Art: mehr verschweigend als sagend,
mehr andeutend als aussprechend versucht er den
Menschen beizukommen. Seine Ironie wird nie
verletzend, sein Humor wirkt nie kränkend,
niemand wird bloßgestellt, er ergötzt sich nicht
auf Kosten anderer. Denn seine Ironie wurzelt im
biographisch-theologischen Mutterboden.
Warum dies so ist? Um dies
zu verstehen, müssen wir tief in seine
Lebensgeschichte hinabsteigen.
Schon mit „etlichen“
dreizehn Jahren verliert er, der schon kurz nach
seiner eigenen Geburt Halbwaise wurde, auch noch
die geliebte Mutter. Früh schon macht Hebel die
bittere Erfahrung: Die hier auf der Erde
verbrachte Lebenszeit ist vorläufig, geliebte
Menschen sterben, der Lebensfaden bricht ab.
Aber sein Lebensgefühl
gründet nicht im Vergänglichkeitsgefühl des
Barock und bleibt auch nicht darin stehen. Nein,
Hebel hat durch den festen Glauben seiner Mutter
schon früh gelernt, die Vorläufigkeit der
Existenz weder resignativ hinzunehmen, noch in
ein übersteigerstes carpe diem umzusetzen,
sondern im Hier und Jetzt zu leben, im Angesicht
von Gottes kommender, neuer Welt. Und Ironie ist
die Umsetzung der theologischen Erkenntnis über
die Vorläufigkeit irdischer Existenz in die
Sprache von Kalendergeschichten und Gedichten.
Ironie und die Poesie brechen die Härte der
Gegenwart. Sie lassen aufatmen, da es in den
kleinen Dingen des Alltags nicht immer um das
Letzte geht.
Wenn Johann Peter Hebel
etwas abgeht, dann ist es Verbissenheit. Er ist
im besten Sinne des Wortes leicht, ohne je
seicht zu werden. Seine Geschichten kommen wie
selbstverständlich daher und sind voller Tief-
und Hintersinn. Und als guter Pädagoge weil er
das mit
dem relativierenden Sinn
gegenüber der Allmacht der Gegenwart zu
kombinieren und mit einem gerüttelten Maß an
Humor zu würzen.
Hebel hat in drei
Textgattungen am stärksten weitergewirkt: Die
stärkste Verbreitung fanden seine
Kalendergeschichten, gefolgt von seiner
biblischen Geschichte und den mit intensivem
Lokalkolorit ausgestatteten und später leider
nur noch im alemannischen Sprachraum rezipierten
„Alemannischen Gedichte“, die 1803 zum ersten
Mal in Karlsruhe erschienen.
Hebels Theologie ist in
allen drei Gattungen breit angelegt. So kann er
es wagen, den Kosmos, Sonne, Mond und Sterne
seinen badischen Land(s)leuten verständlich zu
machen und sie theologisch zu deuten. Dabei ist
Hebel kein Physikotheologe, der glaubt (und
diesem Glauben scheinen bis heute noch einige
theologische „Designer“ anzuhängen), aus der
Natur direkt auf den Schöpfer zurückschließen zu
können. Wohl ist ihm die Natur ein „großes Buch
über die göttliche Allmacht“. Doch geschrieben
ist es in „arabisch, man kann es nicht
verstehen, wenn man keinen Dolmetscher hat“. Und
als Dolmetscher dient Hebel die biblische
Tradition. Sie ist die Brille, mit deren Hilfe
er die Welt nicht allein rational
erkennt, sondern deutet, so
dass sie im eigentlichen Sinne „verstanden“
werden kann.
Gott wirkt nicht nur als
Schöpfer der Welt. Er ist eben nicht nur
Uhrmacher, wie die Deisten glauben. Gott ist
vielmehr auch tätig als Bewahrer des Lebens und
Begleiter durch die Untiefen menschlicher
Existenz. Vom prallen, vollen Leben ist in allen
Kalendergeschichten die Rede. Dort wirkt Gott,
wie die Geschichte „Dankbarkeit“ zeigt: Ein
Matrose muss sich mitten im Getümmel der
Schlacht von Trafalgar wegen einer Laus kratzen.
Um das Tierlein zu töten, bückt er sich und
entrinnt so einer Kanonenkugel. Ja, die
erhaltende und bewahrende Kraft Gottes ist immer
im Werk. Und wenn es sein muss, bedient er sich
dazu einer Laus.
Solche Erkenntnisse werden
nicht pedantisch und rechthaberisch vor dem
Leser ausgebreitet. Sie werden vielmehr fein
ziseliert, kurz und knapp, um niemanden zu
ermüden, als „Lockspeise“ für den Leser
ausgelegt. Denn gute Predigten nützen nicht nur,
sondern — wie Hebel von Horaz wusste — erfreuen
auch. Als der Matrose die Laus mit zarter Hand
absetzt, gibt er ihr noch den Rat mit, sich
nicht noch einmal erwischen zu lassen. Es könnte
ihr sonst das Leben kosten. Ob er hier zu sich
selbst gesprochen hat?
Theologie ist Anregung zum
Nach- und Weiterdenken — wie könnte es bei Hebel
auch anders sein, da er ja ein Kind seiner Zeit,
der Spätaufklärung, ist. Aber Vorsicht mit allzu
wohlfeilen Zuordnungen. Hebel ist kein Freund
der geschliffenen philosophisch-theologischen
Abhandlungen, der intellektuell zugespitzten
Formulierungen. Zur Niederschrift eines eigenen
Katechismus konnte er sich erst spät
entschließen. So spät, dass das Werk erst
posthum erschien. Für die Theologie gilt wohl
auch, was er 1797 über die Schriften des großen
Denkers aus Königsberg bekennt, dessen „Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“
einige Jahre zuvor erschienen war: „Ich hab
angefangen die Kantische Philosophie zu studiren
auf Anrathen eines sehr gelehrten Ungarn, der
sich hier aufhält, und ließ es nun wieder
bleiben auf Anrathen Meiner.“ In geschliffenen
dogmatischen Formulierungen kommt Hebels
Theologie nicht daher. Und sie lässt sich auch
nicht pressen, obgleich Hebel die lateinische
Sprache mehr als zur nur zur Verfügung stand,
wie seine Reden für die Markgräfliche
Lateinische Gesellschaft in Karlsruhe am Ende
seiner Schulzeit verraten.
Hebel
hatte einen Hang zum Konkreten, zu den kleinen
Dingen und kleinen Leuten.
Die Festlegung der
theologischen Gedanken in festgefügte Kategorien
galt nicht nur als Produkt einer überwunden
geglaubten lutherischen Orthodoxie. Sie
widersprach Hebels Erfahrungen, auch seiner
Gotteserfahrung. Er war eben der Sohn „von
armen, aber frommen Eltern‘. Diese Frömmigkeit,
die zeitgemäß durchaus als Rechtschaffenheit zu
verstehen ist, hat er sich Zeit seines Lebens
bewahrt. Er hatte schon früh unterschiedliche
Welten kennen gelernt: „Ich habe die Hälfte der
Zeit in meiner Kindheit bald in einem einsamen
Dorf, bald in den vornehmen Häusern einer
berühmten Stadt zugebracht. Ich habe früh
gelernt, arm sein und reich sein.“ Sein Hang zum
Konkreten, Einzelnen, den kleinen Dingen und
Leuten, hat sicher auch biographische Gründe.
Oder um es präziser zu sagen, sie fiel mit dem
Gefälle der biblischen Texte zusammen. Und Hebel
blieb dieser Linie sein Leben lang treu. Im
April 1809 schreibt er an Friedrich Wilhelm
Hitzig, den engsten Freund: „Unser dermaliger
philosophischer Gott steht, fürchte ich, auf
einem schwachen Grund, nemlich auf einem
Paragraphen, und seine Verehrer sind vielleicht
die thörichtesten Götzendiener, denn sie beten
eine Definition an, und zwar eine
selbstgemachte. Ihr Gott bleibt ewig ein
Abstraktum und wird nie concret.“
Als
Moralist verkannt
Hebels Gottesvorstellung
ist dagegen immer konkret. Nichts ist ihm so
fremd wie der „angetaufte und angepredigte
Glaube“, der im Unbestimmten bleibt. Das ist die
Seite des Theologen Hebel, die später so
hemmungslos ausgebeutet werden konnte, um ihn
zum Heimatdichter zu machen. Die Anekdoten und
Schwänke, die Form, in denen seine Kurzpredigten
niedergeschrieben waren, wurden für die Sache
genommen. So musste herauskommen, was man
hineintat: Hebel der Moralist, der Oberlehrer,
der harmlose Geschichtenschreiber. Die feine
Brechung, die leicht erhobene Stimme mit der
hier gesprochen wurde, wurden ignoriert und nur
der behagliche biedermännisch-biedermeierliche
Dichter blieb zurück. Aber Hebel kommt nie mit
dem moralischen Zeigefinger daher, allenfalls
mit dem pädagogischen, wie ein berühmtes Bild
von ihm und Elisabeth Baustichler aus dem Jahre
1814 zeigt. Das Seinige ist der gute Rat, das
hilfreiche Wort, das sich nie aufdrängt und den
anderen zum Nach- und Mitdenken einlädt und um
Einverständnis bittet.
Hebel will den Leser
einladen, locken, damit er das volle bunte Leben
im Licht der Schrift entdeckt, deutet, mit Hilfe
des Glaubens versteht. Die Theologie ist eben
eine ungemein praktische Wissenschaft. Im
Alltag, im Kleinen und Unscheinbarsten, soll
Gott erkannt werden. Und damit geht Hebel weit
über die Grundgedanken der gängigen
Aufklärungstheologie hinaus. So kommen in seinen
Kalendergeschichten kleine Diebe, aber immer mit
Geist, eingebildete Amtleute, meist ohne
denselben, kluge Kinder, noch klügere Juden und
allerlei Handwerksburschen vor. Die Geschichten
spielen im öffentlichen Raum, auf der Straße
oder in Wirtshäusern. Der Badische Landkalender
und spätere Rheinländische Hausfreund, den Hebel
ab 1807 redigierte, wurde unter seinen Händen zu
einer Art intrinsischem Katechismus. Aus der
Fülle der Beispiele sei die 1819 erschienene
Kalendergeschichte „Das Advokaten-Testament“
herausgegriffen:
„Ein Advokat, der am Ende
seines Lebens fast eine Unruhe des Gewissens
darüber empfand, daß ihn sein Beruf so reich
gemacht hatte, stiftete sein ganzes schönes
Vermögen in das Narren- oder Tollhaus. Aus
Achtung für so manchen verständigen und
rechtlichen geneigten Leser der aus rechter
Oberzeugung und Pflicht, in einen Prozeß
verwickelt sein kann, will der Hausfreund nicht
verraten, was der Advokat für eine Beruhigung
darin gefunden habe. Auch kann sich der Advokat
geirrt haben, aber er meinte wenigstens, es sei
billig.“
Dürfen wir die Gedanken des
Herrn Advokaten vorsichtig ergänzen? Es könnte
sein, dass er bald vor einem Richter stehen
wird, der über sein Wirken auf Erden
Rechenschaft fordert. Ganz sicher scheint sich
der Advokat dessen allerdings nicht zu sein. Wie
im biblischen Gleichnis vom „ungerechten
Haushalter“ versucht der Advokat daher kurz vor
Toresschluss noch etwas gut zumachen. Was aber
hat er sich dabei überlegt, als er alles dem
„Narren- oder Tollhaus“ stiftete? Nebenbei sei
bemerkt, dass 1784 im Wiener Allgemeinen
Krankenhaus der erste „Narrenturm“ eingerichtet
worden war, der eine erste Verbesserung für
psychisch Kranke mit sich brachte. Richtet sich
die Botschaft des Advokaten demnach an die
Menschen: Vor Gericht verteidigte ich lauter
Narren und Toren. Sie haben mich in ihrer
Torheit reich gemacht. Aber sie haben nicht
begriffen, was sie taten. Aber wie dem auch sei,
jetzt soll es wenigstens den anderen, den Toren,
die unter schlimmen Umständen leben, zu gute
kommen. Oder richtet sich die Botschaft gar an
den letzten Richter, gnädig mit ihm zu
verfahren, da alle mit denen er zu tun hatte,
nur Narren und Toren waren, und er deswegen für
seine Vergehen Strafoder gar Narrenfreiheit
genießen sollte?
Biblische Traditionen,
jesuanische Gleichnisse, paulinische
Grunderfahrungen und eschatologische Gesamt-
schau fließen hier ineinander und regen den
Leser an, sich klar zu werden, wie er selber
über das eigene Leben und das letzte Gericht
denkt. Und am Ende bringt Hebel auch das
mögliche Irren des Advokaten, und damit die
Infragestellung der irdischer Rechtssprechung
ins Spiel. Aber selbst wenn der Advokat irren
sollte mit seiner Einschätzung, dass die Leute,
die vor Gericht gehen, Narren sind, betrachtet
er es als „billig“, sprich angemessen, dass der
Nachlass den „geringsten Brüdern“ Christi im
Tollhaus zugute kommt.
Theologie ist bei Hebel in
die Geschichten eingeschmolzen worden. Auch die
Auferstehung und das Gericht stellt er sich
konkret und scheinbar kindlich naiv vor. Das
Wiesental, in dem er aufwuchst, ja der ganze
Südschwarzwald ist der Schauplatz des größten
eschatologischen Gedichtes, „Die
Vergänglichkeit“, das im 19. Jahrhundert
geschrieben wurde. Der Belchen kann ihm „die
erste Station von der Erde zum Himmel“ sein,
„die zweite im Mond“ und die „dritte auf dem
Morgenstern“. Hebel vertraut dabei nicht einfach
dem Verstand, so sehr er den Leuten — wann wäre
dieser Satz je falsch gewesen — nahe legt,
denselben einzusetzen, aber ebenso sehr Herz und
Gemüt, ohne sentimental zu werden. Und alles ist
mit leichter Ironie versehen, bleibt in der
Schwebe. Ob im Großen oder im Kleinen, dem
Theologen Hebel geht es mitfühlend um
verstehendes Deuten und deutendes Verstehen auf
dem Hintergrund biblischer Überlieferung. Auch
darin ist und bleibt er ein menschenfreundlicher
Theologe, dessen Theologie in der
neutestamentliche Grundaussage wurzelt, dass uns
in Christus „die „Menschenfreundlichkeit Gottes“
erschienen ist.
INFORMATIONEN
www.hebeljahr2010.de